Wahrheit als Waffe?
Simon Stones Kino-Adaption von Hendrik Ibsens Drama »Die Wildente« krankt am Vergleich mit der Vorlage
Die Familie scheint ein wirkungsvoller Ort zu sein, Geheimnisse zu begraben. Immer so, dass der äußere Anschein von Würde erhalten bleibt. Der Friede ist faul? Weg damit, her mit einem gesunden Krieg! Die Frage ist, was dann passiert. Ein Experiment, nicht selten mit tödlichem Ausgang.
Thomas Vinterberg etwa hat mit »Das Fest« eine Art Wahrheitsorgie veranstaltet – zurück blieben Trümmer. Aber andererseits gibt es gewiss Lügen, auch ein lügenhaftes Schweigen, das unerträglich ist und gebrochen werden muss, egal, was kommt. Doch wie viel Wahrheit ist überhaupt lebbar? Solcherart Überlegungen spielen in dieser Situation offenbar keine Rolle. Lang Unterdrücktes bricht hervor. Dies Sprechen, Schreien gar, wird zur Notwehr gegen etwas, an dem man sonst erstickt.
Doch der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen erzählte in »Die Wildente« von einer Rede anderer Art, einem perfiden Lancieren von Informationen, im Bewusstsein, dass diese ein Zerstörungswerk anrichten werden. Wahrheit ist dabei nur ein Vorwand, die eigene Macht zu demonstrieren.
Regisseur Simon Stone nimmt nun Nietzsches Frage nach Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne auf, dreht einen Film – frei nach den Motiven Ibsens – und verlegt die Handlung der »Wildente« in unsere Gegenwart. An sich eine naheliegende Idee, die treibenden Konflikte in einem anderen Zeitkontext wiederauferstehen zu lassen. Im Englischen heißt der Film dann auch »The Daughter« (»Die Tochter«). Der deutsche Filmverleih kehrt mit seinem Titel »Die Wildente« jedoch wieder zu Ibsens Stücktitel zurück.
Tat er gut daran? Nein, denn so hat man ständig die Parallele zu Ibsen im Kopf. Doch diese bringt hier nicht weiter. Auch lässt Stone die Hälfte des Ibsen-Personals unter ihren Namen im Stück auftreten, die andere Hälfte bekommt neue. Weil es in einer englischsprachigen Produktion nicht zu skandinavisch klingen sollte? Es ist nach wie vor die Geschichte des Mädchens Hedvig Ekdal (Odessa Young), das zum Opfer einer perfiden Manipulation wird, mit etwas, das sich den Anschein von Wahrheit gibt.
Aus einer Familienidylle, deren Brüchigkeit sie unbewusst sehr wohl registriert, flieht das junge Mädchen bei Ibsen aus Pubertätsverwirrung zu einer Wildente, die der Großvater auf dem Dachboden in einem bizarren Garten aus vertrockneten Weihnachtsbäumen hält. Der ominöse Konsul Werle hatte sie bei der Jagd angeschossen. Das ist selbiger, der sich der Familie Ekdal gegenüber als Wohltäter geriert. Dabei saß der alte Ekdal für eine Finanzmanipulation Werles im Gefängnis. Nun will der verwitwete Werle erneut heiraten und sein Sohn Gregers, der im Film Christian heißt (überaus indifferent: Paul Schneider), reist dazu an.
Gregers/Christian kennt die Geheimnisse der Familie Ekdal und unternimmt alles, damit diese keine mehr bleiben. Er ist bei Ibsen ein Fanatiker, eine zutiefst dämonische Figur, der von einer Reinigung spricht, die denen zuteil werde, die den Schmerz nicht fürchten. Ibsen geht es um eine »höhere Wahrheit«, in deren Namen Gregers handelt. Ist solcherart Inquisitor-Typus heute kein Thema mehr? Seltsamerweise will Simon Stone, ein renommierter Theaterregisseur, der hier seinen ersten Film vorlegt, davon nichts wissen. Für ihn unterläuft Christian im Alkoholfrust nur ein Malheur: Er redet zu viel. Das erscheint als Motivation seltsam billig. Hedvig ist nicht Hjalmar Ekdals Tochter! Als dieser nun erfährt, dass er nicht der leibliche Vater des Mädchens ist, erweist er sich als ein überaus labiler Charakter. Er stößt seine Tochter von sich. Die verkraftet den Schock nicht und erschießt sich.
Es ist schon ein Dilemma mit Filmen, die mit dem Motto »nach Motiven von« antreten. Man ist in jedem Falle enttäuscht: entweder, weil keine überzeugende Lesart der Vorlage gelingt, oder aber, weil es nicht zur autonom erzählten Geschichte langt. Der Eindruck bleibt: Stone trivialisiert unnötig. Den Großkaufmann Werle (Erzeuger von Hedvig), der hier Henry heißt (Geoffrey Rush), sehen wir als Besitzer eines großen Sägewerks, das jedoch schließen muss. Fotograf Hjalmar Ekdal ist bei Stone Arbeiter in dieser Fabrik und wird wie alle anderen bald entlassen. Man spricht über Sozialpläne, während Henry unbeirrt Heiratspläne macht.
Sprachlich ist von Ibsen in diesem Handlungsgerüst nichts übriggeblieben. Hedvig etwa soll ein ganz normaler Teenager von heute sein. Das klingt dann oft nach alltagssprachlichem Klischee. Sie sagt Dinge wie: »Willst du nachher noch etwas abhängen?«, oder: »Chillen wir noch etwas?« (»Chillen« heißt auch nichts anderes als abhängen.)
Am problematischsten bleibt jedoch Stones Umgang mit Ibsens zentraler Figur Gregers, die von diesem als Entlarver-Typus (der Aufklärer als rücksichtsloser Aufdecker!) gemeint war, einer, der in seinem Wahrheits-Wahn über Leichen geht. Bei ihm herrscht die Abstraktion über das Lebendige. Überaus flach scheint es nun, wenn Gregers bei Stone nun eher zufällig mit seinen Worten jenes Unheil anrichtet, das bei Ibsen doch Folge eines starren Prinzips ist.
Aber vielleicht verstellt diese ständige Ibsen-Analogie, die durch den deutschen Filmtitel noch verstärkt wird, nur den Blick auf das, was Stone an heutigen Konflikten erzählt? Verlaufen sie ähnlich wie bei Ibsen beschrieben, sind aber anders motiviert? Es bleibt zwiespältig. Die schlaglichtartig montierten Bilder sind durchaus von starker Prägnanz, sehr präsent auch die Schauspieler in diesem sehr assoziativ konstruierten Familiendrama, heute, wo die Familie als solche längst nicht mehr Bannkräfte wie zu Ibsens Zeiten besitzt.
Wenn man nur Ibsen – dessen Anspruch wohl jede Verfilmung nur unterbieten kann – vergessen könnte, dann sähe man ein filmisch durchaus dicht gearbeitetes Kammerspiel, das ganz aus den Flachheiten der Gegenwart erwächst. Einen Anspruch Ibsens jedoch will auch Stone unbedingt wachhalten: Mit dem Vergessen ist es so eine Sache! Denn manches allzu eilig Verdrängte kehrt zur Unzeit wieder.