»Der Mensch, der ich bin«
Don DeLillo über ein mögliches Überleben, indem man sich einfrieren lässt
Wer ein Buch von Don DeLillo zur Hand nimmt, darf wissen: Es könnte zunächst irritieren, doch etwas wird bleiben, wird ins Bewusstsein sinken und von Bedeutung sein, was die Wahrnehmung von Wirklichkeit betrifft. Was sich unter der Oberfläche des politisch Alltäglichen verbirgt, dafür wird man ein Gespür entwickeln. Aber es sind ja Romane und keine aufklärerischen Sachbücher; sie handeln immer auch vom Autor selbst, seinen Überlegungen und Befürchtungen.
Dass dieser berühmte US-amerikanische Schriftsteller am 20. November achtzig wird, ist mitzudenken beim Lesen seines neuen Romans. Vorbei die Zeit, als er die dunklen Gedanken weit von sich schieben konnte. Der Tod: Wie wird er sein? So ausgeliefert zu sein, wie soll man es ertragen? Wer möchte sich nicht als Herr des eigenen Lebens fühlen. In einer Welt, wo so vieles machbar scheint. Wo individuelle Freiheit als höchstes Gut gepredigt wird, erscheint der Tod als Demütigung aller hochfliegenden Ideen.
Totentanz – wie viele Künstler haben sich über die Jahrhunderte mit dem Gedanken auseinandergesetzt, dass alle gleich sind im Tode. Diese Gleichheit steht zur Disposition. Wenn es Möglichkeiten gibt, den Tod zu überlisten, werden sie nur wenigen zugutekommen, allein schon des Preises wegen. Andererseits: Wenn wir alle unsterblich würden – auch dieser Gedanke ist schon durchgespielt worden – wie sollte das gehen?
»Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben«, mit diesem Satz beginnt der Roman. Jeffrey, der Ich-Erzähler, kommt auf einem Privatflugplatz an: Salzwüste und Geröll, irgendwo zwischen Bischkek und Astana. Im einst sowjetischen Mittelasien hat sein Vater, der Milliardär Ross Lockhart, in ein, wie er glaubt, zukunftsträchtiges Unternehmen investiert. Wobei er dabei auch die eigene Zukunft im Auge hat. Kryonik: In der Hoffnung, eines Tages wiederbelebt, von Krankheiten und Alter geheilt zu werden, lassen sich Menschen einfrieren. Der Romantitel: »Null K« meint null Kelvin, den absoluten Nullpunkt. Aber die Tot-Lebendigen, die Jeffrey in durchsichtigen Behältern wie Statuen aufgereiht sieht, haben es rund 80 Grad wärmer. Bei 196 Grad Celsius sind sie in flüssigem Stickstoff gelagert.
Zu einer bizarren Science-FictionSzenerie geformt ist hier ein Geschäft, das bereits lukrativ floriert. In den USA und in Russland kann man sich tatsächlich in Kyrostase begeben. Im Roman wird Ross‘ schwerkranke Frau Artis in solch einen Kälteschlaf versetzt, bei dem ihr Körper nicht abstirbt und ihr Gehirn sogar leichte Aktivitäten zeigt. Irgendwann in der Zukunft wird es für ihre Krankheit Heilung geben. Doch wer weckt sie dann wieder auf? Und wie wird sie sich fühlen?
»Aber bin ich denn wer ich war«, so beginnt auf Seite 161 das Kapitel »Artis Martineau«, in dem Don DeLillo versucht, sich in diesen seltsamen Schlafzustand einzufühlen. »Kann ich nicht aufhören zu sein wer ich bin und niemand werden … Bin ich nur die Wörter …« Denkend eingeschlossen? Der Autor und sein IchErzähler sehen mit Skepsis, ja sogar mit Grauen, wie sich die Vorstellung von Freiheit in ewiges Gefangensein verkehrt. Einzelmenschen in der Gewalt anderer – was da im Projekt »Konvergenz« wie ein faszinierendes Kunstwerk inszeniert wird, ist es nicht bloß die Fortsetzung all dessen, was in der Welt draußen jede Sekunde mit anderen Mitteln geschieht?
Wenn Jeffrey durch die gespenstisch leeren Gänge des Gebäudes geht, entrollen sich hin und wieder Bildschirme. Alltägliche Schreckensnachrichten, kunstvoll verdichtet zu suggestiven Szenen einer allumfassenden Katastrophe: Willst du in einer solchen Welt leben? Wie wir immer wieder erleben, was da an Nachrichten über uns kommt, das wird hier zur Dauermanipulation stilisiert. Jeffrey will sich dem entziehen, aber er ist neugierig, wie auch wir es beim Lesen sind. DeLillo spielt mit unserem Voyeurismus, der uns bei dem Grauenhaften hält. Wer es merkt, kann sich vielleicht schützen.
Jeffrey erkundet das gespenstische Gebäude, wo in den Gängen mitunter seltsame Puppen stehen. Als Sohn des wichtigsten Geldgebers gelangt er eines Tages auch in die unterirdischen Ebenen, wo die Gefrorenen sind. Dass wir es ebenfalls sehen wollen, ist ein Spannungsmittel. Anders kann der Autor seine Gedanken ja auch nicht transportieren.
Mit Jeffrey gehen wir durch eine »Lektion der Verunsicherung«. Wozu? Um Manipulatives zu durchschauen, was übrigens auch in früheren Werken Don DeLillos Anliegen war. Um Eigensinn zu entwickeln, was bedeutet sich willentlich von einer Anpassung abzukoppeln, die auch Bequemlichkeit und Sicherheit verspricht. Jeffrey kann das, weil er sich von des Vaters Reichtum nicht verführen lässt, gleichzeitig aber ohne materielle Sorgen ist. Hier öffnen sich Wege zum Weiterdenken. Der Autor hat sie noch nicht gebahnt.
Die Schwierigkeiten, die der Sohn mit dem Vater hat, der einst seine Familie verließ und sich gar nicht für seine frühere Frau, seine Mutter, interessiert, man kann sie untergründig spüren. Jeffrey: ein durch frühe Kränkung Vereinsamter, seiner selbst bewusst Gewordener, ein Suchender wie viele junge Leute, aber auch ein Verständiger, wie der Autor es ist.
»Dass ich der Mensch bin, der ich bin«, er kann es spüren, ebenso wie das, was dieses Ich subtil bedroht. »Ich will nicht, was man wollen soll«, sagt er zu seinem Vater. »Ich lebe schon recht komfortabel. Aber ich will es handlich halten.« Was seine Mutter sagte, fällt ihm wieder ein: »Die gewöhnlichen Augenblicke machen das Leben aus.«
Er geht durch Verluste. Erst ist seine Mutter gestorben, dann soll er seine Stiefmutter und den Vater auf ihren letzten Wegen begleiten, schließlich verliert er seine Geliebte, die den Tod ihres Adoptivsohns nicht verwinden kann. Die Erfahrung, dass Nahestehende von ihm gehen, mag für den Autor schon zu einer alltäglichen geworden sein und ist doch schmerzlich immer wieder. Den Schmerz abschütteln? Diese verderbte Welt verlassen? Freitod? Später wiedergeboren werden?
»Denn nirgend kann es dem Menschen ärger im Tode ergehen, als wo der Tod selbst ewiglich ohne Tod sein wird« – so zitiert ausgerechnet einer der Chefs dieses Kryonik-Unternehmens den heiligen Augustinus. Zynismus der Macher, die längst alles durchschauen, dessen sie sich bedienen. Die Stenmark-Zwillinge gibt es wirklich – als Models. Hier gelten sie als geniale Projektanten jenes künstlichen Imperiums, das vermutlich noch ganz andere Herrschaftsstrukturen hat. Hin und wieder taucht im Roman mal einer jener Todeskünstler auf und ist zu philosophischen Erwägungen bereit: »›Sehen und spüren Sie das alles nicht intensiver als früher? Die Gefahren und Warnungen? Dass sich da etwas zusammenbraut …‹ Ich sagte zu ihm, was sich da zusammenbraue, könne durchaus eine Art psychologischer Pandemie sein. Sorgenvolle Wahrnehmung auf dem Weg ins Wunschdenken …«
Eine Art Kriegsvorbereitung sogar? »Ein Licht am Himmel, ein Überschallknall, eine Druckwelle – und eine russische Stadt geht in einen Zustand komprimierter Realität über, den man rätselhaft nennen würde, wenn er nicht so jäh real wäre …« Doch das Licht am Himmel, das wir auf der letzten Seite sehen, muss uns nicht ängstigen. Eine gleißende Sonne inmitten einer Straßenschlucht in Manhattan. Irgendetwas – auch darin klingen frühere Werke dieses Autors an – ist stärker als die Bedrohung.