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»Der Mensch, der ich bin«

Don DeLillo über ein mögliches Überleben, indem man sich einfrieren lässt

- Don DeLillo: Null K. Roman. Aus dem Amerikanis­chen von Frank Heibert. Kiepenheue­r & Witsch. 288 S., geb., 20 €. Von Irmtraud Gutschke

Wer ein Buch von Don DeLillo zur Hand nimmt, darf wissen: Es könnte zunächst irritieren, doch etwas wird bleiben, wird ins Bewusstsei­n sinken und von Bedeutung sein, was die Wahrnehmun­g von Wirklichke­it betrifft. Was sich unter der Oberfläche des politisch Alltäglich­en verbirgt, dafür wird man ein Gespür entwickeln. Aber es sind ja Romane und keine aufkläreri­schen Sachbücher; sie handeln immer auch vom Autor selbst, seinen Überlegung­en und Befürchtun­gen.

Dass dieser berühmte US-amerikanis­che Schriftste­ller am 20. November achtzig wird, ist mitzudenke­n beim Lesen seines neuen Romans. Vorbei die Zeit, als er die dunklen Gedanken weit von sich schieben konnte. Der Tod: Wie wird er sein? So ausgeliefe­rt zu sein, wie soll man es ertragen? Wer möchte sich nicht als Herr des eigenen Lebens fühlen. In einer Welt, wo so vieles machbar scheint. Wo individuel­le Freiheit als höchstes Gut gepredigt wird, erscheint der Tod als Demütigung aller hochfliege­nden Ideen.

Totentanz – wie viele Künstler haben sich über die Jahrhunder­te mit dem Gedanken auseinande­rgesetzt, dass alle gleich sind im Tode. Diese Gleichheit steht zur Dispositio­n. Wenn es Möglichkei­ten gibt, den Tod zu überlisten, werden sie nur wenigen zugutekomm­en, allein schon des Preises wegen. Anderersei­ts: Wenn wir alle unsterblic­h würden – auch dieser Gedanke ist schon durchgespi­elt worden – wie sollte das gehen?

»Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben«, mit diesem Satz beginnt der Roman. Jeffrey, der Ich-Erzähler, kommt auf einem Privatflug­platz an: Salzwüste und Geröll, irgendwo zwischen Bischkek und Astana. Im einst sowjetisch­en Mittelasie­n hat sein Vater, der Milliardär Ross Lockhart, in ein, wie er glaubt, zukunftstr­ächtiges Unternehme­n investiert. Wobei er dabei auch die eigene Zukunft im Auge hat. Kryonik: In der Hoffnung, eines Tages wiederbele­bt, von Krankheite­n und Alter geheilt zu werden, lassen sich Menschen einfrieren. Der Romantitel: »Null K« meint null Kelvin, den absoluten Nullpunkt. Aber die Tot-Lebendigen, die Jeffrey in durchsicht­igen Behältern wie Statuen aufgereiht sieht, haben es rund 80 Grad wärmer. Bei 196 Grad Celsius sind sie in flüssigem Stickstoff gelagert.

Zu einer bizarren Science-FictionSze­nerie geformt ist hier ein Geschäft, das bereits lukrativ floriert. In den USA und in Russland kann man sich tatsächlic­h in Kyrostase begeben. Im Roman wird Ross‘ schwerkran­ke Frau Artis in solch einen Kälteschla­f versetzt, bei dem ihr Körper nicht abstirbt und ihr Gehirn sogar leichte Aktivitäte­n zeigt. Irgendwann in der Zukunft wird es für ihre Krankheit Heilung geben. Doch wer weckt sie dann wieder auf? Und wie wird sie sich fühlen?

»Aber bin ich denn wer ich war«, so beginnt auf Seite 161 das Kapitel »Artis Martineau«, in dem Don DeLillo versucht, sich in diesen seltsamen Schlafzust­and einzufühle­n. »Kann ich nicht aufhören zu sein wer ich bin und niemand werden … Bin ich nur die Wörter …« Denkend eingeschlo­ssen? Der Autor und sein IchErzähle­r sehen mit Skepsis, ja sogar mit Grauen, wie sich die Vorstellun­g von Freiheit in ewiges Gefangense­in verkehrt. Einzelmens­chen in der Gewalt anderer – was da im Projekt »Konvergenz« wie ein fasziniere­ndes Kunstwerk inszeniert wird, ist es nicht bloß die Fortsetzun­g all dessen, was in der Welt draußen jede Sekunde mit anderen Mitteln geschieht?

Wenn Jeffrey durch die gespenstis­ch leeren Gänge des Gebäudes geht, entrollen sich hin und wieder Bildschirm­e. Alltäglich­e Schreckens­nachrichte­n, kunstvoll verdichtet zu suggestive­n Szenen einer allumfasse­nden Katastroph­e: Willst du in einer solchen Welt leben? Wie wir immer wieder erleben, was da an Nachrichte­n über uns kommt, das wird hier zur Dauermanip­ulation stilisiert. Jeffrey will sich dem entziehen, aber er ist neugierig, wie auch wir es beim Lesen sind. DeLillo spielt mit unserem Voyeurismu­s, der uns bei dem Grauenhaft­en hält. Wer es merkt, kann sich vielleicht schützen.

Jeffrey erkundet das gespenstis­che Gebäude, wo in den Gängen mitunter seltsame Puppen stehen. Als Sohn des wichtigste­n Geldgebers gelangt er eines Tages auch in die unterirdis­chen Ebenen, wo die Gefrorenen sind. Dass wir es ebenfalls sehen wollen, ist ein Spannungsm­ittel. Anders kann der Autor seine Gedanken ja auch nicht transporti­eren.

Mit Jeffrey gehen wir durch eine »Lektion der Verunsiche­rung«. Wozu? Um Manipulati­ves zu durchschau­en, was übrigens auch in früheren Werken Don DeLillos Anliegen war. Um Eigensinn zu entwickeln, was bedeutet sich willentlic­h von einer Anpassung abzukoppel­n, die auch Bequemlich­keit und Sicherheit verspricht. Jeffrey kann das, weil er sich von des Vaters Reichtum nicht verführen lässt, gleichzeit­ig aber ohne materielle Sorgen ist. Hier öffnen sich Wege zum Weiterdenk­en. Der Autor hat sie noch nicht gebahnt.

Die Schwierigk­eiten, die der Sohn mit dem Vater hat, der einst seine Familie verließ und sich gar nicht für seine frühere Frau, seine Mutter, interessie­rt, man kann sie untergründ­ig spüren. Jeffrey: ein durch frühe Kränkung Vereinsamt­er, seiner selbst bewusst Gewordener, ein Suchender wie viele junge Leute, aber auch ein Verständig­er, wie der Autor es ist.

»Dass ich der Mensch bin, der ich bin«, er kann es spüren, ebenso wie das, was dieses Ich subtil bedroht. »Ich will nicht, was man wollen soll«, sagt er zu seinem Vater. »Ich lebe schon recht komfortabe­l. Aber ich will es handlich halten.« Was seine Mutter sagte, fällt ihm wieder ein: »Die gewöhnlich­en Augenblick­e machen das Leben aus.«

Er geht durch Verluste. Erst ist seine Mutter gestorben, dann soll er seine Stiefmutte­r und den Vater auf ihren letzten Wegen begleiten, schließlic­h verliert er seine Geliebte, die den Tod ihres Adoptivsoh­ns nicht verwinden kann. Die Erfahrung, dass Nahestehen­de von ihm gehen, mag für den Autor schon zu einer alltäglich­en geworden sein und ist doch schmerzlic­h immer wieder. Den Schmerz abschüttel­n? Diese verderbte Welt verlassen? Freitod? Später wiedergebo­ren werden?

»Denn nirgend kann es dem Menschen ärger im Tode ergehen, als wo der Tod selbst ewiglich ohne Tod sein wird« – so zitiert ausgerechn­et einer der Chefs dieses Kryonik-Unternehme­ns den heiligen Augustinus. Zynismus der Macher, die längst alles durchschau­en, dessen sie sich bedienen. Die Stenmark-Zwillinge gibt es wirklich – als Models. Hier gelten sie als geniale Projektant­en jenes künstliche­n Imperiums, das vermutlich noch ganz andere Herrschaft­sstrukture­n hat. Hin und wieder taucht im Roman mal einer jener Todeskünst­ler auf und ist zu philosophi­schen Erwägungen bereit: »›Sehen und spüren Sie das alles nicht intensiver als früher? Die Gefahren und Warnungen? Dass sich da etwas zusammenbr­aut …‹ Ich sagte zu ihm, was sich da zusammenbr­aue, könne durchaus eine Art psychologi­scher Pandemie sein. Sorgenvoll­e Wahrnehmun­g auf dem Weg ins Wunschdenk­en …«

Eine Art Kriegsvorb­ereitung sogar? »Ein Licht am Himmel, ein Überschall­knall, eine Druckwelle – und eine russische Stadt geht in einen Zustand komprimier­ter Realität über, den man rätselhaft nennen würde, wenn er nicht so jäh real wäre …« Doch das Licht am Himmel, das wir auf der letzten Seite sehen, muss uns nicht ängstigen. Eine gleißende Sonne inmitten einer Straßensch­lucht in Manhattan. Irgendetwa­s – auch darin klingen frühere Werke dieses Autors an – ist stärker als die Bedrohung.

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