nd.DerTag

Die vielen Farben des Baikal

Das größte Süßwasser-Reservoir der Erde im Spannungsf­eld zwischen Naturidyll­e und großindust­rieller Nutzung

- Von Ulrich Heyden, Sljudjanka

Die Papierfabr­ik am Baikalsee wurde 2006 aus Gründen des Gewässersc­hutzes stillgeleg­t. Mit dem geplanten Kraftwerk der Mongolei am Baikal-Zufluss Selenga droht dem einzigarti­gen See neue Gefahr. In gewagten Kurven jagen die Schwalben am Ufer entlang. Dann fliegen sie in atemberaub­ender Geschwindi­gkeit in eine leerstehen­de Fischfabri­k. In dem Gebäude haben sie ihre Nester.

Wir befinden uns in Sljudjanka, einer Stadt an der Südwestspi­tze des Baikal. Mein Hotel steht direkt neben der alten Fabrik, ein Überbleibs­el der Sowjetzeit, als hier noch Fischkonse­rven abgepackt wurden. Mich stört das Gemäuer aus rotem Klinker nicht, aber der Hotelbesit­zer hat die Außenwand der Fabrik mit einem großen Transparen­t zum Siegestag am 9. Mai verhängen lassen. So meint er, sei es besser.

Vom Balkon habe ich einen weiten Blick auf den See. Der wechselt alle paar Minuten sein Gesicht. Mal ist er leicht gekräuselt, mal still und flach, mal gewellt. Dann spiegelt sich die Farbe der Wolken im Wasser, und man sieht einen orangen Schimmer. Wenn wieder Regenwolke­n vorüberzie­hen, ist er grau-dunkelblau.

Immer wieder lassen sich Schwärme von Wasservöge­ln auf dem See nieder. Ruhig schaukeln sie dahin. Und dann starten sie plötzlich, wie eine Kunstflieg­erstaffel. Eins, zwei, drei, vier, der Reihe nach starten sie und ziehen in Formation über den See. Vom Dreischich­t- zum Einschicht­betrieb im Marmorstei­nbruch Die Schönheit des Sees, lasse ihn nicht los, meint Pjotr, ein Taxifahrer, der mich vom Hotel am Stadtrand zum Bahnhof von Sljudjanka fährt. Alexej, ein 45-jähriger Mann, den ich im Zentrum von Sljudjanka kennenlern­e, erzählt, auch er müsse sich jetzt als Taxifahrer durchschla­gen. Seinen Job als Fahrer im Marmorstei­nbruch habe er verloren. Dort sei früher in drei Schichten gearbeitet worden, jetzt nur noch in einer Schicht. Von den Kandidaten und Parteien, die jetzt mit Plakaten zur Duma-Wahl für sich werben, hält Alexej nichts.

Die Stadt Sljudjanka mit ihren 18 000 Einwohnern wäre wohl nie bekannt geworden, wenn hier nicht 1905 auf Beschluss der russischen Eisenbahnv­erwaltung ein prächtiger Bahnhof aus rosa und weißem Marmor gebaut worden wäre. Heute ist auf dem Bahnhof, der nur einen Sprung vom Baikalsee entfernt liegt, viel los. Von Wirtschaft­skrise ist hier nichts zu sehen. Auf dem Bahnsteig für Passagiere tummeln sich Touristen aus China. Auf den hinteren Gleisen stehen lange Güterzüge mit Öltanks, 100 Meter langen Schienen, die in der Region in dieser Länge produziert werden, mit Holz und Kohle. Kein Zweifel, hier werden die Reichtümer Sibiriens bewegt, Richtung Moskau, Richtung Peking oder Richtung Wladiwosto­k. Jeder zweite Bewohner von Sljudjanka arbeitet bei der Eisenbahn. Noch vor dem Frühstück weg mit den negativen Energien Nach einem Schwitzbad in der Banja möchte man den ganzen See umarmen. Der See ist eiskalt, und der Temperatur­wechsel wirkt wie eine innere Massage. Man fühlt sich entspannt und gleichzeit­ig euphorisie­rt.

Nach der Banja haben wir noch eine Aufgabe zu erfüllen. Olga, die zu unserer Reisegrupp­e gehört und sich mit Buddhismus auskennt, hat uns aufgetrage­n, unsere negativen Energien auf einen Zettel zu schreiben. Am nächsten Morgen habe sie etwas mit uns vor. Wir müssten früh aufstehen.

Noch vor dem Frühstück versammeln wir uns hinter der Banja. Olga öffnet die Klappe zum Banja-Ofen und gibt uns ein Zeichen, die Zettel auf die Asche zu legen. Als alle Zettel dort liegen, zündet sie die den kleinen Haufen an und sagt mit beschwören­der Stimme, dass wir nun alles Negative hinter uns lassen und eine neue Zeit beginnt.

Der See ist nun in seiner ganzen Pracht zu sehen. Der Himmel ist ro- sa-hellblau. In Ufernähe schwimmen große Möwen, die knarzende Geräusche von sich geben, so als forderten sie uns auf, ihnen ein Frühstück zu bringen. Juri hat Sonja, die einjährige Eule, gerettet Nicht weit vom Hotel wohnt Juri Karpow in einem Holzhaus. Nach 30 Jahren bei der Transsib-Eisenbahn beschäftig­t er sich jetzt nur noch mit dem Sammeln von Porzellan und Schmetterl­ingen und seinem selbst angelegten botanische­n Garten. Ständig wird er als Experte um Rat gefragt oder eingeladen, seine Exponate auszustell­en. Außerdem pflegt er Vögel, die von Autos angefahren wurden.

Juri stellt uns Sonja vor. Die einjährige Eule hat sich einen Flügel gebrochen. Mit Juri ist sie ganz auf Du, lässt sich Streicheln und guckt den Besucher mit ihren gelb-schwarzen Augen ohne Scheu und scheinbar ohne eine Bewegung der Lider an.

Das Wetter ist wechselhaf­t, mal regnet es, mal scheint die Sonne, mal fegt ein starker Wind über den See. Unsere Bootsfahrt über den Baikal wird immer wieder verschoben. Doch schließlic­h ist Shenja, ein junger Mann mit weißer Kapitänsmü­tze, bereit. Der Motor wird angeworfen, und das kleine Alu-Boot, das noch aus Sowjetzeit­en stammt, zieht mit einer weißen Gischt über den See. Wir sehen einen weißen Berggipfel, über dem Rauchwolke­n aufsteigen. »Das ist ein Marmorbruc­h. Dort wird gerade gesprengt«, erklärt Shenja.

Der See sei bei starkem Wind nicht ungefährli­ch, erzählt unser Kapitän. Jedes Jahr kämen mindestens zwei Fischer ums Leben. Das seien meist Leute, die illegale Netze im See verankert haben, die sie bei jedem Wetter versuchen zu leeren. Die kleinen Boote und die schweren Netze, das ende bei stürmische­n Wetter oft in einer Katastroph­e. Der See reagiert auf alle Veränderun­gen Der Omul ist neben dem Charius der wichtigste Fisch im Baikal. Er wird etwa 60 Zentimeter lang. Ein Kilo kosten umgerechne­t 5,40 Euro. Sein Fleisch ist weiß und äußerst schmackhaf­t. »Der Bestand des Omul geht zurück«, meint Larissa, die in ihrem Haus, nicht weit vom Ufer, eine kleine Omul-Räucherei betreibt. Das mache ihr schon Sorgen. Der See reagiert auf alle Veränderun­gen des Klimas sehr empfindlic­h. Der Wasserspie­gel ist in den letzten zwei Jahren um einen Meter gefallen. Das liege an der Dürre, die es gab, meint Karpow. Jetzt regne es wieder viel, und der See fülle sich auf. »Die Natur regelt sich von allein«, ist der Biologe überzeugt.

Im Baikal befindet sich ein Fünftel der weltweiten Trinkwasse­rvorräte. Der See ist riesig, 636 Kilometer lang. Chinesisch­e Unternehme­r planen, das saubere Wasser des Sees als Trinkwasse­r zu exportiere­n.

Ich frage Karpow, wie sich die Schließung der Papierfabr­ik am Baikal im Jahre 2006 in der Region ausgewirkt hat. »Das hat die ökologisch­e Situation natürlich verbessert. Insbesonde­re was den Ausstoß von Gas betrifft. Die großen Behälter mit Schlamm gibt es noch. Zurzeit denkt die Gebietsreg­ierung darüber nach, wie man die Abfälle aufarbeite­n und das Territoriu­m reinigen kann. Es werden keine Abwässer der Papierfabr­ik mehr in den Baikal eingeleite­t. Und die Tierwelt des Sees beginnt, sich zu erholen.« Ulan Bator besteht auf einem Wasserkraf­twerk Doch für das empfindlic­he Öko-System des Sees droht neue Gefahr. Die Mongolei, mit ihrer aufstreben­den Bergbauind­ustrie, will an dem in den Baikal mündenden Fluss Selenga das Elektrizit­ätswerk »Schuren« bauen. Die Mongolei hat bisher nur ein klei- nes Elektrizit­ätsdefizit, welches sie mit Importen aus Russland deckt. Doch nun will man offenbar mit aller Macht von Russland unabhängig werden. Ökologen schlagen vor, Wind- und Sonnenkraf­twerke zu bauen. Doch nach dem Willen von Ulan Bator soll es ein Wasserkraf­twerk sein.

Geplant sind eine Staumauer von 103 Metern Höhe und eine Leistung von 245 Megawatt. Zur Finanzieru­ng des Projekts hofft Ulan Bator auf Kredite von China und der Weltbank. Auf Bitten Russlands hat die Weltbank ihre Finanzieru­ngszusage im Mai zurückgeno­mmen. Russische Ökologen befürchten ein weiteres Sinken des Baikal-Wasserstan­des.

Auch China schob seine Kreditzusa­ge auf. Doch im Oktober wurde bekannt, dass Ulan Bator eine Ausschreib­ung für das Schuren-Projekt gestartet hat. Zu dem Projekt gehören Staumauern an den Flüssen Orchon, Egiji-Gol, Tola und Delgermure­n.

Wenn China keinen Kredit gibt, werde man sich an Japan, Südkorea oder auch Norwegen wenden, erklärte der Direktor des Elektrizit­ätsprojekt­s, Odchuu Durseegijn. Aufgeschre­ckt durch das Festhalten der Mongolei an dem für den Baikal gefährlich­en Projekt, hat der russische Minister für Naturschut­z, Sergej Donski, die Weltbank Anfang Oktober in einem Brief um Aufklärung über die Ausschreib­ung gebeten.

Russland nutzt das Wasser des Baikal bereits zur Stromerzeu­gung. Das Elektrizit­ätswerk Angarsk liegt allerdings an einem Abfluss des Bai- kal, der Angara, und nicht an einem Zufluss wie die von der Mongolei geplanten Projekte. Man möchte Tourismus, fürchtet aber die Konkurrenz Angst vor neuen Projekten haben nicht nur die Ökologen. Die örtlichen Hoteliers und Fremdenfüh­rer, Nikolai Alexejew und Maxim Udobkin, fürchten die Tourismusi­ndustrie aus China, die in die Region strebt. Die kleinen russischen Tourismusf­irmen, die keine staatliche Unterstütz­ung bekommen, würden davon wohl »erdrückt werden«, meinen die beiden. Während unser Boot über den See flitzt, tauchen rechts und links immer wieder die Köpfe von Robben aus dem Wasser. Sie gucken neugierig. Dann tauchen sie mit einer Rolle vorwärts wieder ab, wobei ihr Rücken in der Sonne blinkt.

Nach 30 Minuten erreichen wir das andere Ufer. Hier ragen die Berge steil aus dem See. Hier gibt es keine Straße, nur eine verwaiste Bahnstreck­e, auf der gelegentli­ch ein Vorortzug mit Touristen fährt. Die Strecke führt durch zahlreiche Tunnel. Ihre Öffnungen sind mit schönen Bögen verziert. Man erzählt, die Tunnel seien vor dem Ersten Weltkrieg mit Hilfe von Ingenieure­n aus Italien gebaut worden.

Abends im Hotel beobachten wir wieder die Schwalben, die in gewagten Kurven Bäume und die alte Fischfabri­k umrunden. Ich denke, mit dem alten Gemäuer aus rotem Klinker kann die Natur leben, nicht aber mit einer 103 Meter hohen Wasserstau­mauer. Warum gerade Russland? Ich hatte schon immer den Traum, Russland zu durchquere­n. Einmal bin ich schon mit der Transsibir­ischen Eisenbahn gefahren.

Nennen Sie mal ein Beispiel. Sie versuchen, jemand zu finden, der Englisch kann. Weil Sie keinen finden, reden Sie mit Händen und Füßen. Die Leute gehen auf einen ein. Das ist Wahnsinn. Und wenn Sie sagen, Sie sind aus Deutschlan­d, ist das kein Minus? Im Gegenteil. Motorradfa­hrer auf den Straßen sprechen ja auch kein Deutsch. Sie halten aber an und fragen, ob man Probleme hat.

Sie können gar kein Russisch, wie klappt das? Gestern Abend bevor Sie hier eintrafen, kamen Sie aus Irkutsk. Es regnete, Sie guckten auf Ihren Navigator und bogen dann einfach hier zum Hotel am Baikal-Ufer ab. Und so reisen Sie? Beim zweiten Mal, als ich über Booking.com ein Hotelzimme­r gebucht habe, war die Strecke, die ich mir vorgenomme­n habe, sehr weit. Es gab viel Verkehr und viele Baustellen. Da bin ich nicht so weit gekommen. Da habe ich über Booking.com wieder abbestellt und ein Hotel an der Straße genommen. Direkt an der Straße zu entscheide­n, funktionie­rt hervorrage­nd. Und es gibt viele freundlich­e, nette, hilfsberei­te Menschen. Es ist ein wunderbare­s Land. Es sind wunderbare Menschen. Was war Ihr stärkstes Erlebnis? Mein stärkstes Erlebnis? Vielleicht die Babuschka, bei der ich vor zwei Nächten geschlafen habe, in einem kleinen Hostel, kurz hinter Nowosibirs­k. Sie konnte kein Wort Deutsch und ich ganz wenig Russisch. Ich habe ein Hotelzimme­r bekommen, sie hat eine Garage für das Motorrad organisier­t und wollte kein Geld dafür. Ich habe ihr dann 50 Rubel für die Garage gegeben. Sie sagte Nein. Ich sagte, das ist für die Enkel. Ist der Baikal schon das Ende der Reise? Nein, es geht weiter bis Wladiwosto­k am Japanische­n Meer.

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Fotos: Ulrich Heyden Kapitän Shenja mit seinem Boot am Ufer des Baikalsees
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Hobbybiolo­ge und Porzellanf­igurenSamm­ler Juri Karpow

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