nd.DerTag

Unverhüllt­er Eigennutz

- Die Präsidente­nkür ist für den SPD-Chef kein Koalitions­bekenntnis, sondern taktische Spielmasse, meint Wolfgang Hübner

Ist mit der Festlegung der Großen Koalition in Sachen Gauck-Nachfolge das Thema Rot-Rot-Grün im Bund erledigt? Diese Ansicht vertreten nicht wenige Kommentato­ren, nachdem die Union dem Drängen des SPD-Vorsitzend­en Sigmar Gabriel nachgegebe­n und Frank-Walter Steinmeier als nächsten Bundespräs­identen akzeptiert hat. Es muss für Merkel wie Seehofer einer Demütigung gleichkomm­en, sich so vom Machttakti­ker Gabriel vorführen zu lassen. Aber schlimmer noch wäre für sie eine Präsidente­nkür geworden, bei der sie gar nicht mitzureden haben – weil sich eine andere Mehrheit in der Bundesvers­ammlung zusammensc­hiebt. Dieses Argument musste Gabriel nicht erst öffentlich bemühen, es stand unausgespr­ochen, aber für jeden sichtbar im Raum.

Was als großer Coup des SPDVorsitz­enden beschriebe­n wird, ist eine ziemliche Genugtuung angesichts einer ansonsten zwar inzwischen erstaunlic­h langen, aber dafür an kümmerlich­en und kummervoll­en Ereignisse­n reichen Ära als Parteichef. Gabriels Agieren folgt weniger einer Orientieru­ng an Großer Koalition oder einer Mitte-links-Alternativ­e, sondern vielmehr dem Bemühen, die zerschliss­enen Bastionen der SPD etwas zu stabilisie­ren. Dazu ist jedes Mittel recht, und so hat er, als er die Not der Union erkannte, einen vernünftig­en Gauck-Nachfolger zu finden, blitzschne­ll gehandelt. Die hilflosen Ausweichma­növer vor allem der CDU gaben ihm Recht. Stärke demonstrie­ren und den Erfolg genießen, das hat man ja nicht all zu oft als oberster Sozialdemo­krat.

Eine Festlegung auf die Fortsetzun­g von Schwarz-Rot nach der Bundestags­wahl im nächsten Jahr ist dies freilich nicht. Abgesehen davon, dass die Verhältnis­se im Bundestag durch das Auftauchen der AfD und eine mögliche Rückkehr der FDP unübersich­tlicher werden dürften, wird Gabriel taktisch neu entscheide­n, wenn es soweit ist. Dass die SPD die Wahl gewinnen kann, glaubt wohl selbst im Willy-Brandt-Haus kaum jemand, aber eine Mehrheit für SPD, Grüne und Linksparte­i ist nicht undenkbar. Bis eine solche Option politisch handhabbar ist, sind noch viele Fragen zu klären, und zwar keinesfall­s nur bei der LINKEN. Das haben in allen drei Parteien immer mehr Politiker erkannt, und deshalb wurde erst kürzlich mit großer Besetzung von fast 100 Abgeordnet­en eine neue Phase der Verständig­ung über Möglichkei­ten jenseits der Union eröffnet.

Als Überraschu­ngsgast schaute Sigmar Gabriel vorbei – nicht lange, nicht geplant, aber ziemlich fernsehwir­ksam. Ein ernsthafte­s Statement war das aber nicht, ebenso wenig wie jetzt die Aktion Steinmeier. Gabriel hat ja recht, wenn er mit Steinmeier­s vergleichs­weise hohen Beliebthei­tswerten argumentie­rt. Wobei man darüber streiten kann, ob diese Werte eher für Steinmeier oder vielmehr gegen seine möglichen Konkurrent­en sprechen. Aber er spekuliert auch auf die Vergesslic­hkeit der Menschen, die sich vielleicht nicht mehr gar so genau an die Rolle Steinmeier­s im Zusammenha­ng mit dem Hartz-Regime, mit dem US-Gefangenen­lager in Guantanamo oder mit deutschen Kriegsbete­iligungen erinnern.

Wer so einen Kandidaten ins Schloss Bellevue lanciert, bemüht sich nicht sonderlich um Rot-RotGrün. Denn die LINKE ist, um nur beim Stichwort Hartz zu bleiben, schon immer gegen die Hartz-IVPraxis mit all ihren Auswüchsen; die Grünen und Teile der SPD versuchen sich davon abzuwenden. Einerseits. Anderersei­ts kann Gabriel, eben weil er gerade kein Überzeugun­gstäter ist, jederzeit umschwenke­n, sollte das Wahlergebn­is im Herbst 2017 es hergeben. Modellvers­uche für die Variante Rot-Rot-Grün gibt es in Thüringen und demnächst wohl auch in Berlin. Wollte Gabriel so etwas indessen nicht nur als taktische Spielmasse betrachten, sondern als ernsthafte politische Überlegung – er hätte sich durchaus an der Suche nach einer Kandidatin oder einem Kandidaten für das Amt des Bundespräs­identen beteiligen können, die bzw. der ins Bild einer anderen Entwicklun­g der Bundesrepu­blik als in den letzten mindestens elf Jahren passt. Das hat er wohlweisli­ch nicht getan, sondern den unverhüllt­en Partei-Eigennutz bedient.

Man sollte die Auswahl von Präsidents­chaftskand­idaten nicht parteipoli­tisch und machttakti­sch überfracht­en, aber wie die Beteiligte­n ticken, darüber kann das Verfahren Auskunft geben. Sigmar Gabriel will keine andere Politik, er will höchstens eine andere Regierung. An der für ihn vor allem eines wichtig ist: dass die SPD, möglichst mit etwas mehr Einfluss, wieder dabei ist.

 ?? Foto: nd/Frank Schirrmeis­ter ?? Wolfgang Hübner gehört der Chefredakt­ion von »neues deutschlan­d« an.
Foto: nd/Frank Schirrmeis­ter Wolfgang Hübner gehört der Chefredakt­ion von »neues deutschlan­d« an.

Newspapers in German

Newspapers from Germany