Sinnkrise in Den Haag
Der Internationale Strafgerichtshof berät über seine Zukunft
Nach dem angekündigten Rückzug mehrerer afrikanischer Staaten aus dem Weltstrafgericht treffen sich an diesem Mittwoch Vertreter der 124 Vertragsstaaten zur jährlichen Vollversammlung in Den Haag. Man darf durchaus Kalkül vermuten, wenn Fatou Bensouda unmittelbar vor der diesjährigen Vollversammlung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) mit einem solchen Bericht an die Öffentlichkeit geht: US-Soldaten und CIA-Agenten sollen nach Einschätzung internationaler Ermittler in Afghanistan Kriegsverbrechen begangen haben. Demnach gebe es »eine vernünftige Grundlage zu glauben«, dass nicht nur Taliban und Angehörige der afghanischen Regierungstruppen für Folter und Misshandlung verantwortlich seien, betonte die Haager Chefanklägerin. So töteten radikale Islamisten und ihre Verbündeten bei Angriffen auf Schulen, Krankenhäuser und Moscheen zwischen 2007 und Ende 2015 höchstwahrscheinlich 17 000 Zivilisten.
Zum ersten Mal aber gingen die Ermittler des IStGH im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen auch der Rolle der US-amerikanischen Streitkräfte und des Washingtoner Auslandsgeheimdienstes CIA nach.
Seit 2003 bis in die jüngste Vergangenheit hinein habe es bei mindestens 88 ihrer Gefangenen schwere Verletzungen der Menschenwürde gegeben, nicht nur in Afghanistan, auch in Geheimgefängnissen in Polen, Rumänien und Litauen. Bei den Verhören seien systematisch Techniken angewandt worden, die »auf das Kriegsverbrechen Folter hinauslaufen«. Die Regierung von George W. Bush hatte einst sogenannte harsche Verhörmethoden gebilligt und damit Foltermethoden wie das simulierte Ertränken (Waterboarding) salonfähig gemacht. Erst sein Nachfolger Barack Obama stoppte das beim Amtsantritt 2009.
Bensouda will zwar erst demnächst entscheiden, ob sie nun umfassende Ermittlungen beantragt. Doch schon jetzt ist ihr Vorgehen ein Signal an die 124 Staaten, die sich seit 2002 dem sogenannten Römischen Statut des Weltstrafgerichts unterwerfen. Die USA haben es wie Russland, China oder Israel nicht ratifiziert, doch können Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auch verfolgt werden, wenn sie in einem Vertragsstaat verübt worden sind. Und Afghanistan gehört zu ihnen. Doch bislang saßen ausschließlich Politiker und Warlords aus Afrika auf der Anklagebank in Den Haag; fünf wurden verurteilt. Das hat zu wachsendem Unmut geführt. Im Oktober kündigten Südafrika, Bu- rundi und Gambia, das Heimatland Bensoudas, sogar an, sich aus dem IStGH-Gründungsvertrag zurückzuziehen.
Offiziell stehen diese Austritte nicht auf der Agenda der an diesem Mittwoch beginnenden Vollversammlung, dem Kontrollgremium des Strafgerichtshofs, in dem es neben der Erhöhung des Haushalts um rund sieben Prozent auf 150,2 Millionen Dollar eigentlich vornehmlich um die Zusammenarbeit mit einzelnen Regie- rungen gehen sollte. Schließlich besitzt das Weltstrafgericht keine eigene Polizei, um Anordnungen durchzusetzen und Personen festzunehmen, und ist so immer auf die Sicherheitskräfte der Mitgliedstaaten angewiesen. Doch wird auch die prinzipielle Unzufriedenheit mit einem »parteiischen« IStGH, der angeblich mit zweierlei Maß misst und vor allem die Interessen der westlichen Welt durchsetzt, bei den Beratungen über die Zukunft des Gerichtshofes eine wichtige Rolle spielen müssen. Denn weitere der 34 afrikanischen Mitglieder – die größte regionale Gruppe – drohen ebenfalls mit Rückzug.
Dabei ist dieser Schritt auch dort umstritten. Solche Austritte seinen »ein schwerer Schlag für die vielen Opfer staatlicher Gewalt in Afrika«, betont etwa der Völkerrechtsexperte Benjamin Aluka aus Tansania. Und Prof. Murumbu Kiania von der Universität in Nairobi verweist noch auf einen anderen Aspekt: Anstatt auszutreten, »sollten die afrikanischen Staaten eher auf ihre bevölkerungsreiche Kraft als Block setzen, um Veränderungen aus dem Inneren heraus herbeizuführen. So können sie sicherstellen, das überall Recht gesprochen wird.«
»Der IStGH ist ein weißes Gericht zur Verfolgung und Demütigung Farbiger, insbesondere von Afrikanern.« Sheriff Baba Bojang, Informationsminister Gambias