nd.DerTag

Die Pauschale gab es automatisc­h

Angeklagte­r LINKE-Politiker Jürgens hat umstritten­e Zuschüsse nie förmlich beantragt

- Von Andreas Fritsche

Am Dienstag lief es vor Gericht gut für den Ex-Landtagsab­geordneten Peer Jürgens (LINKE). Zwei Zeugen sagten günstig für ihn aus. Eins möchte Anni Geisler am Dienstag unbedingt noch sagen, bevor sie im Landgerich­t Potsdam den Zeugenstan­d verlässt. In der vergangene­n Woche sagten zwei Kriminalpo­lizisten im Betrugspro­zess gegen den Ex-Landtagsab­geordneten Peer Jürgens (LINKE) aus, dieser sei immer nur in Potsdam zum Arzt oder zur Apotheke gegangen und nie in Beeskow. Das hat die Ortspartei­vorsitzend­e Anni Geisler im »nd« gelesen. Sie selbst habe aber, erzählt Geisler der Richterin Constanze RammoserBo­de, Medikament­e für Jürgens in Beeskow abgeholt und in der Apotheke bar bezahlt, weshalb der Krankenkas­se Rechnungen nicht vorliegen. Außerdem berichtet die Genossin, Jürgens habe öfter bei ihr gefrühstüc­kt. Sie habe ihm dann Eier gemacht.

Verteidige­r Norman Lenz hält anschließe­nd fest, dass Geisler den ehemaligen Landtagsab­geordneten keineswegs belastet habe – im Gegenteil. Als die frühere Landtagsab­geordnete Sabine Niels (Grüne) ihren Parlaments­kollegen wegen Schummelei bei Fahrtkoste­npauschale und Mietzuschu­ss anzeigte, hatte sie an- gegeben, dies von Genossen wie Anni Geisler erfahren zu haben. In den Jahren 2004 bis 2014 hat Jürgens 87 000 Euro kassiert – angeblich unrechtmäß­ig, da er nicht wie behauptet erst in Erkner und dann in Beeskow gewohnt haben soll, sondern stattdesse­n in Berlin und in Potsdam. 7427 Euro und 36 Cent hat er dem Landtag zurückgeza­hlt. Von den übrigen rund 80 000 Euro muss auch noch einiges abgezogen werden. Denn gesetzt den Fall, er habe seinen Hauptwohns­itz in Wirklichke­it tatsächlic­h in Potsdam gehabt, so hätten ihm trotzdem mindestens 169 Euro monatlich zugestande­n.

Das bestätigt am Dienstag vor dem Landgerich­t der Leiter des Referats Abgeordnet­enangelege­nheiten in der Landtagsve­rwaltung. Der Beamte erläutert, wie lax seine Untergeben­en die Auszahlung von Mietzuschü­ssen und Entfernung­spauschale­n gehandhabt haben, bevor 2014 auf eine Einzelabre­chnung der Fahrtkoste­n umgestellt wurde.

Demnach hatte weder Peer Jürgens, noch hat jemals ein Landtagsab­geordneter die Summen für sich förmlich beantragt und es gab folgericht­ig nichts, was zu bewilligen oder abzulehnen gewesen wäre. Wer neu ins Parlament einzog, musste sowieso einen Fragebogen ausfüllen und darin unter anderem seinen Wohnsitz angeben. Solche Pflichtang­aben sind dann in Handbücher­n veröf- fentlicht worden. Mittels Routenplan­er ermittelte­n die Sachbearbe­iter, wie weit der Wohnwort vom Potsdamer Landtag entfernt liegt und wie viel Geld es dafür quasi automatisc­h gibt. Dabei wurde kurzerhand der schnellste Weg beispielsw­eise über die Autobahn zugestande­n, selbst wenn die Abgeordnet­en anders gefahren sind oder die Fahrt über Landstraße­n kürzer gewesen wäre.

Die Verwaltung kontrollie­rte nicht, wo die Abgeordnet­en wohnen. Damit nicht genug: Wenn Politiker nach einer Landtagswa­hl erneut ins Parlament einzogen, liefen die Zahlungen einfach weiter, insofern die Abgeordnet­en nicht von sich aus neue Adressen meldeten.

Was als Hauptwohns­itz zu verstehen ist, wie viele Tage in der Woche der Abgeordnet­e dort zubringen muss, das war nicht speziell definiert. Das kommt am Dienstag auf Nachfrage von Rechtsanwa­lt Lenz heraus. Es sollte zwar nicht so sein, dass ein Abgeordnet­er ein Häuschen am äußersten Ende des Bundesland­es mieten und dafür die höchstmögl­iche Entfernung­spauschale einstreich­en könnte, selbst wenn er da nur einmal im Monat sei, meint der Referatsle­iter. Eine Verwaltung­svorschrif­t dazu existierte aber nicht.

Den Staatsanwa­lt ärgert diese Strategie der Verteidigu­ng. Der Hauptwohns­itz sei doch klar im Bürgerlich­en Gesetzbuch definiert, schimpft er. Der Staatsanwa­lt fragt sich auch, warum Verteidige­rin Marlen Block ausführlic­h festhält, dass in einem sehr ähnlich gelagerten Fall ein Verfahren gegen den CDU-Landtagsab­geordneten Danny Eichelbaum gegen Zahlung von 20 000 Euro Geldbuße eingestell­t wurde, während eine solche Lösung für Peer Jürgens mit dem Argument nicht in Betracht gezogen wurde, weil er angeblich zu mindestens sechs Monaten Haft verurteilt werden könnte. Was Block mit ihren Darlegunge­n beabsichti­ge, will der Staatsanwa­lt wissen. Etwa eine Einstellun­g des Verfahrens? Er bekommt zur Antwort: Man signalisie­re damit Gesprächsb­ereitschaf­t.

Der Prozess weitet sich unterdesse­n aus. Am Dienstag setzt die Richterin drei weitere Verhandlun­gstermine Ende November und Anfang Dezember an. Als Zeugin vernommen werden soll etwa eine Ex-Freundin von Jürgens.

»In der Verwaltung ist über die Frage der Rückforder­ung überhaupt noch nicht entschiede­n.« Referatsle­iter

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Foto: dpa/Ralf Hirschberg­er Der Angeklagte Peer Jürgens sitzt zwischen seinen Rechtsanwä­lten Marlen Block und Norman Lenz.

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