Glücksspiel kann Arbeit machen
Was die Lottomittel-Übergabe auf einem Pferdehof mit ALG II zu tun hat – ein Termin mit Thüringens Sozialministerin
Viele Politiker lieben es, Menschen übergroße Lottomittel-Schecks zu überreichen. Diese PR-Praxis ist nicht unumstritten. Doch manchmal öffnet sich bei dieser Gelegenheit der Blick auf die harte Realität. Selbst ist die Frau, auch wenn sie Ministerin ist. Jedenfalls gilt das für Heike Werner, weshalb Thüringens Sozialministerin sich den nicht ganz leichten und nicht ganz kleinen Stoffbeutel nicht abnehmen lassen will, als sie ihn vom Auto über den gepflasterten Innenhof des Gehöfts trägt. Auch nicht, obwohl der Boden ein wenig rutschig ist. Reste von Erde und Pferdemist hängen zwischen den Fugen. »Wo geht’s denn hin?«, ruft die LINKE-Politikerin über den Hof. In einer von neun Boxen nuckelt ein Hase an der Wasserflasche, die an dem Gitter hängt, das ihn davon abhält, dort hin zu rennen, wo Werner in den kommenden etwa 45 Minuten stehen wird: in einem Pferdestall, dann in einem Kuhstall, der heute auch ein Pferdestall ist, und schließlich in einem niedrigen Aufenthaltsraum.
Eigentlich soll es bei diesem ministeriellen Routinetermin ausschließlich um die Arbeit des Pferdeschutzhofs in Saara – einer kleinen Gemeinde nahe Gera – gehen, der auch eine Reit- und Begegnungsstätte ist. Der dazugehörige Verein mit seinen etwa zwölf Mitgliedern kümmert sich derzeit um dreizehn Pferde, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr bei ihren bisherigen Besitzern bleiben konnten. Ein Pferd, das auf den Namen Max hört, ist zum Beispiel nun hier, weil das Veterinär-Amt des Unstrut-Hainich-Kreises festgestellt hat, dass sein vormaliger Besitzer Max nicht artgerecht gehalten hat. Der Vereinsvorsitzende, Pierre Dubiel, sagt, häufig hätten Menschen irgendwann einfach keine Zeit mehr für ihre vierbeinigen Freunde.
Was diesen Termin, bei dem es bald um große Sozialpolitik gehen wird, eigentlich zu einem Routinetermin macht, ist der Umstand, dass Werner an diesem Tag Lottomittel an den Verein übergeben will – 4000 Euro. Das Geld ist freilich längst überwiesen und verbraucht. Dubiel sagt, fünf Boxen für die Pferde hätten mit den Mittel gebaut werden können. Aber Werner lässt es sich nicht nehmen, diesen Hof trotzdem zu besuchen und das Geld symbolisch zu überreichen.
Auch alle anderen Thüringer Minister nehmen solche Termine wahr – seit Jahren und unabhängig davon, welche Koalition den Freistaat gerade regiert. Thüringens Finanzministerin Heike Taubert (SPD) etwa übergab im August innerhalb von fünf Tagen gleich sechs Mal solche Gelder. In Sonneberg hatte sie damals gleich zwei Schecks übergeben: zunächst, um 15 Uhr, an ein Familienzentrum. Dann, schon eine Stunde später, an einen Kleingartenverein. Auch Werner hat an diesem Tag eine Stunde nach Beginn des Termins bei dem Pferdeschutzverein schon die nächste Lottomittel-Übergabe – in Gera beim Deutschen Roten Kreuz.
Dass solche Termine Routine sind, bedeutet nicht, dass sie unumstritten wären. Besonders deshalb, weil allen, die bei solchen Gelegenheiten Geld für einen guten Zweck überreichen, der Vorwurf begegnet, sie würden sich mit mehr oder weniger öffentlichem Geld die politische Zuneigung von Menschen und potenziellen Wählern erkaufen wollen. Vor allem in Wahljahren wird deshalb ganz genau geschaut, ob Vertreter einer Landesregierung ohne zwingenden Grund nun plötzlich mehr Lottomittel ausschütten als in der Vergangenheit. Auch gegen die Regierung von Christine Lieberknecht waren solche Vorwürfe erhoben worden, nachdem der MDR 2015 berichtet hatte, die damals schwarz-rote Landesregierung der CDU-Frau habe im Jahr der Thüringer Landtagswahl 2014 etwa eine halbe Million Euro mehr Lottomittel verteilt als im Nicht-Wahljahr 2013.
So berechtigt solche Einwände häufig auch sind, für Minister bedeuten solche Termine nicht selten auch einen Aufschlag in der Realität jener Menschen, in deren Interesse sie doch Politik machen sollen. Werner formuliert das etwas zurückhaltender, meint aber doch genau das, wenn sie sagt, bei der Übergabe von Lottogeldern erfahre sie oft, »wo es noch Förderlücken gibt«.
An diesem Tag in Saara verläuft dieser Aufschlag der Politik in einer Thüringer Lebenswirklichkeit so: Nachdem Werner zum Aufwärmen ein wenig Smalltalk gehalten sowie einen ersten Blick in den Pferdestall geworfen hat, wird sie von der 51-jährigen Kerstin Kubik – der guten Seele des Pferdeschutzvereins – damit konfrontiert, wie aus ihrer Sicht ungerecht Thüringer Behörden ihr umgehen. Der Verein, sagt Kubik, habe viel zu wenig Personal, sie werde für den Tierschutz hier unbedingt gebraucht. Aber weil sie Arbeitslosengeld II beziehe, werde sie beständig vom Job zu aus ihrer Sicht völlig sinnfreien Dingen vorgeladen: zu Trainings etwa, bei denen die Teilnehmer ihre Handtaschen auskippen sollten. »Ja, bin ich denn bekloppt«, sagt Kubik, die sich mehr und mehr in Rage redet.
Die Referentin Werners versucht die Situation zu retten, indem sie erklärt, das Engagement Kubiks sei doch inzwischen sogar mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wurde – überreicht durch Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Und ein solches Engagement, sagt sie, werde doch auch ein Jobcenter nicht einfach so ignorieren, da schnaubt Kubik nur. So laut, dass es von den Stallwänden widerhallt. Dann presst sie ein Wort hervor: »Doch!« Und: Etliche der betreuten Pferde müssten eingeschläfert werden, wenn keine Lösung für sie und ihren Bezug von Arbeitslosengeld II gefunden werde. »Das hier geht definitiv krachen, wenn keiner da ist.«
Den Rest dieses Termins verbringt Werner damit, gemeinsam mit Kubik und Dubiel zu überlegen, welche Fördermöglichkeiten es für die Arbeit des Vereins geben könnte. Was ihr schon deshalb ein persönliches Anliegen ist, weil die LINKE-Politikerin schon qua Parteibuch die deutsche Hartz IV-Gesetzgebung ablehnt, an diesem Tag aber wieder erkennen muss, wie beschränkt die politischen Einflussmöglichkeiten einer Landesministerin auf das sind, was in der deutschen Sozialverwaltung Alltag ist.
Auch nachdem Werner sich mit Kubik, Dubiel, zwei Pferden und zwei Kindern zum Gruppenfoto aufgestellt hat, bei dem der Stoffbeutel übergeben wird, spricht die Ministerin von Förderungen durch Stiftungen und die EU. In dem Stoffbeutel liegen »Leckerlies« für die Pferde. Und ganz oben steckt der übergroße LottomittelScheck.
Die »Förderlücke«, die Werner an diesem Tag findet, an dem sie ursprünglich nur Lottomittel übergeben wollte: Eigentlich ist die Arbeit Kubiks in dem Tierschutzverein prädestiniert dafür, über den sozialen Arbeitsmarkt gefördert zu werden, den Werner gerade im Land aufbaut. Doch um solches Fördergeld zu bekommen, ist Kubik ein paar Jahre zu jung. Unmittelbar bevor Werner – pünktlich genug, um noch rechtzeitig zur zweiten Scheckübergabe ihres Arbeitstages zu kommen – wieder über den Innenhof zu ihrem Auto eilt, sagt sie: »Dann verabschieden uns jetzt. Wir haben Aufträge mitgenommen.«