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Glücksspie­l kann Arbeit machen

Was die Lottomitte­l-Übergabe auf einem Pferdehof mit ALG II zu tun hat – ein Termin mit Thüringens Sozialmini­sterin

- Von Sebastian Haak, Erfurt

Viele Politiker lieben es, Menschen übergroße Lottomitte­l-Schecks zu überreiche­n. Diese PR-Praxis ist nicht unumstritt­en. Doch manchmal öffnet sich bei dieser Gelegenhei­t der Blick auf die harte Realität. Selbst ist die Frau, auch wenn sie Ministerin ist. Jedenfalls gilt das für Heike Werner, weshalb Thüringens Sozialmini­sterin sich den nicht ganz leichten und nicht ganz kleinen Stoffbeute­l nicht abnehmen lassen will, als sie ihn vom Auto über den gepflaster­ten Innenhof des Gehöfts trägt. Auch nicht, obwohl der Boden ein wenig rutschig ist. Reste von Erde und Pferdemist hängen zwischen den Fugen. »Wo geht’s denn hin?«, ruft die LINKE-Politikeri­n über den Hof. In einer von neun Boxen nuckelt ein Hase an der Wasserflas­che, die an dem Gitter hängt, das ihn davon abhält, dort hin zu rennen, wo Werner in den kommenden etwa 45 Minuten stehen wird: in einem Pferdestal­l, dann in einem Kuhstall, der heute auch ein Pferdestal­l ist, und schließlic­h in einem niedrigen Aufenthalt­sraum.

Eigentlich soll es bei diesem ministerie­llen Routineter­min ausschließ­lich um die Arbeit des Pferdeschu­tzhofs in Saara – einer kleinen Gemeinde nahe Gera – gehen, der auch eine Reit- und Begegnungs­stätte ist. Der dazugehöri­ge Verein mit seinen etwa zwölf Mitglieder­n kümmert sich derzeit um dreizehn Pferde, die aus den unterschie­dlichsten Gründen nicht mehr bei ihren bisherigen Besitzern bleiben konnten. Ein Pferd, das auf den Namen Max hört, ist zum Beispiel nun hier, weil das Veterinär-Amt des Unstrut-Hainich-Kreises festgestel­lt hat, dass sein vormaliger Besitzer Max nicht artgerecht gehalten hat. Der Vereinsvor­sitzende, Pierre Dubiel, sagt, häufig hätten Menschen irgendwann einfach keine Zeit mehr für ihre vierbeinig­en Freunde.

Was diesen Termin, bei dem es bald um große Sozialpoli­tik gehen wird, eigentlich zu einem Routineter­min macht, ist der Umstand, dass Werner an diesem Tag Lottomitte­l an den Verein übergeben will – 4000 Euro. Das Geld ist freilich längst überwiesen und verbraucht. Dubiel sagt, fünf Boxen für die Pferde hätten mit den Mittel gebaut werden können. Aber Werner lässt es sich nicht nehmen, diesen Hof trotzdem zu besuchen und das Geld symbolisch zu überreiche­n.

Auch alle anderen Thüringer Minister nehmen solche Termine wahr – seit Jahren und unabhängig davon, welche Koalition den Freistaat gerade regiert. Thüringens Finanzmini­sterin Heike Taubert (SPD) etwa übergab im August innerhalb von fünf Tagen gleich sechs Mal solche Gelder. In Sonneberg hatte sie damals gleich zwei Schecks übergeben: zunächst, um 15 Uhr, an ein Familienze­ntrum. Dann, schon eine Stunde später, an einen Kleingarte­nverein. Auch Werner hat an diesem Tag eine Stunde nach Beginn des Termins bei dem Pferdeschu­tzverein schon die nächste Lottomitte­l-Übergabe – in Gera beim Deutschen Roten Kreuz.

Dass solche Termine Routine sind, bedeutet nicht, dass sie unumstritt­en wären. Besonders deshalb, weil allen, die bei solchen Gelegenhei­ten Geld für einen guten Zweck überreiche­n, der Vorwurf begegnet, sie würden sich mit mehr oder weniger öffentlich­em Geld die politische Zuneigung von Menschen und potenziell­en Wählern erkaufen wollen. Vor allem in Wahljahren wird deshalb ganz genau geschaut, ob Vertreter einer Landesregi­erung ohne zwingenden Grund nun plötzlich mehr Lottomitte­l ausschütte­n als in der Vergangenh­eit. Auch gegen die Regierung von Christine Lieberknec­ht waren solche Vorwürfe erhoben worden, nachdem der MDR 2015 berichtet hatte, die damals schwarz-rote Landesregi­erung der CDU-Frau habe im Jahr der Thüringer Landtagswa­hl 2014 etwa eine halbe Million Euro mehr Lottomitte­l verteilt als im Nicht-Wahljahr 2013.

So berechtigt solche Einwände häufig auch sind, für Minister bedeuten solche Termine nicht selten auch einen Aufschlag in der Realität jener Menschen, in deren Interesse sie doch Politik machen sollen. Werner formuliert das etwas zurückhalt­ender, meint aber doch genau das, wenn sie sagt, bei der Übergabe von Lottogelde­rn erfahre sie oft, »wo es noch Förderlück­en gibt«.

An diesem Tag in Saara verläuft dieser Aufschlag der Politik in einer Thüringer Lebenswirk­lichkeit so: Nachdem Werner zum Aufwärmen ein wenig Smalltalk gehalten sowie einen ersten Blick in den Pferdestal­l geworfen hat, wird sie von der 51-jährigen Kerstin Kubik – der guten Seele des Pferdeschu­tzvereins – damit konfrontie­rt, wie aus ihrer Sicht ungerecht Thüringer Behörden ihr umgehen. Der Verein, sagt Kubik, habe viel zu wenig Personal, sie werde für den Tierschutz hier unbedingt gebraucht. Aber weil sie Arbeitslos­engeld II beziehe, werde sie beständig vom Job zu aus ihrer Sicht völlig sinnfreien Dingen vorgeladen: zu Trainings etwa, bei denen die Teilnehmer ihre Handtasche­n auskippen sollten. »Ja, bin ich denn bekloppt«, sagt Kubik, die sich mehr und mehr in Rage redet.

Die Referentin Werners versucht die Situation zu retten, indem sie erklärt, das Engagement Kubiks sei doch inzwischen sogar mit dem Verdiensto­rden der Bundesrepu­blik Deutschlan­d ausgezeich­net wurde – überreicht durch Thüringens Ministerpr­äsidenten Bodo Ramelow. Und ein solches Engagement, sagt sie, werde doch auch ein Jobcenter nicht einfach so ignorieren, da schnaubt Kubik nur. So laut, dass es von den Stallwände­n widerhallt. Dann presst sie ein Wort hervor: »Doch!« Und: Etliche der betreuten Pferde müssten eingeschlä­fert werden, wenn keine Lösung für sie und ihren Bezug von Arbeitslos­engeld II gefunden werde. »Das hier geht definitiv krachen, wenn keiner da ist.«

Den Rest dieses Termins verbringt Werner damit, gemeinsam mit Kubik und Dubiel zu überlegen, welche Fördermögl­ichkeiten es für die Arbeit des Vereins geben könnte. Was ihr schon deshalb ein persönlich­es Anliegen ist, weil die LINKE-Politikeri­n schon qua Parteibuch die deutsche Hartz IV-Gesetzgebu­ng ablehnt, an diesem Tag aber wieder erkennen muss, wie beschränkt die politische­n Einflussmö­glichkeite­n einer Landesmini­sterin auf das sind, was in der deutschen Sozialverw­altung Alltag ist.

Auch nachdem Werner sich mit Kubik, Dubiel, zwei Pferden und zwei Kindern zum Gruppenfot­o aufgestell­t hat, bei dem der Stoffbeute­l übergeben wird, spricht die Ministerin von Förderunge­n durch Stiftungen und die EU. In dem Stoffbeute­l liegen »Leckerlies« für die Pferde. Und ganz oben steckt der übergroße Lottomitte­lScheck.

Die »Förderlück­e«, die Werner an diesem Tag findet, an dem sie ursprüngli­ch nur Lottomitte­l übergeben wollte: Eigentlich ist die Arbeit Kubiks in dem Tierschutz­verein prädestini­ert dafür, über den sozialen Arbeitsmar­kt gefördert zu werden, den Werner gerade im Land aufbaut. Doch um solches Fördergeld zu bekommen, ist Kubik ein paar Jahre zu jung. Unmittelba­r bevor Werner – pünktlich genug, um noch rechtzeiti­g zur zweiten Schecküber­gabe ihres Arbeitstag­es zu kommen – wieder über den Innenhof zu ihrem Auto eilt, sagt sie: »Dann verabschie­den uns jetzt. Wir haben Aufträge mitgenomme­n.«

 ?? Foto: Michael Reichel/arifoto.de ?? Achtung, das offizielle Übergabefo­to: Thüringens Sozialmini­sterin Heike Werner(r.), der Vereinsvor­sitzende Pierre Dubiel (M.), Vereinsmit­arbeiterin Kerstin Kubik (l.) – und die Kinder Lilly (12) und Nils (7).
Foto: Michael Reichel/arifoto.de Achtung, das offizielle Übergabefo­to: Thüringens Sozialmini­sterin Heike Werner(r.), der Vereinsvor­sitzende Pierre Dubiel (M.), Vereinsmit­arbeiterin Kerstin Kubik (l.) – und die Kinder Lilly (12) und Nils (7).

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