»Weit schlimmer als unter Schünemann«
Vielzahl von Straf- und Ermittlungsverfahren gegen Nazigegner in Göttingen
Ein rechtsextremes Bündnis überzieht Göttingen und Umgebung mit Mahnwachen. Antifaschistischen sehen ihre Gegenproteste durch die Polizei kriminalisiert und klagen über eine Welle an Repressionen. »Nicht labern – MACHEN!« schreibt der »Freundeskreis Thüringen/Niedersachsen« auf seiner Facebook-Seite. Seit Ende des vergangenen Jahres überziehen das rechtsextreme Bündnis und die NPD die Stadt Göttingen und Orte in der Umgebung mit sogenannten Mahnwachen und »freiheitlichen Bürgertreffs«. Eine für das vergangene Wochenende angesetzte Demo der Rechten in Göttingen fand zwar letztendlich nicht statt, zahlreiche Gegendemonstranten kamen jedoch trotzdem, blockierten Kreuzungen und zeigten ihren Unmut über die Rechten. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Freundeskreis-Mitgliedern und Antifaschisten wurde ein Linker verletzt. Ein Mitglied der Grünen-Jugend Göttingen erklärt: »Wir fordern die Polizei auf, antifaschistischen Selbstschutz vor Nazi-Übergriffen nicht länger zu kriminalisieren und stattdessen konsequent gegen neonazistische Provokationen vorzugehen. Wenn bewaffnete Nazis nach Göttingen kommen, dann sind sie Täter, nicht Opfer.«
Nazi-Gegner protestieren regelmäßig gegen die Aufmärsche der Rechten – mit Demonstrationen, Massenkundgebungen, Blockaden und multikulturellen Festen. Biswei- len werden »Freundeskreis«-Mitglieder aber auch verprügelt oder ihre Autos abgefackelt. Zuletzt ging in der Nacht zum 31. Oktober in Tiftlingerode bei Duderstadt ein Fahrzeug in Flammen auf.
Seit Ende des vergangenen Jahres, das meldete jetzt die »Antifaschistische Linke International« (a.l.i.), ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaften gegen mehr als 80 antifaschistische Aktivisten. Die Göttinger Polizei, die im Staatsschutzkommissariat eine Sonderermittlungsgruppe eingesetzt hat, bestätigte zahlreiche Verfahren.
Die hohe Zahl an Ermittlungs- und Strafverfahren dokumentiert aus Sicht der a.l.i. die Ausdauer und Hartnäckigkeit, mit der sich Menschen seit einem Jahr den Auftritten und Angriffen von Neonazis entgegenstellen. Unter den Betroffenen seien Schlauchbootfahrerinnen und Versammlungsanmelder, Glitzerwerferinnen und Transparenthalter. Die Repressionen gegen Antifaschistinnen und Antifaschisten, so die Gruppe, hätten »ein weit schlimmeres Ausmaß angenommen, als zu den dunkelsten Schünemann-Zeiten.« Uwe Schünemann (CDU) war von 2003 bis 2013 Innenminister in Niedersachsen. Er stand auch wegen seines harten Kurses gegen Flüchtlinge und Linke in der Kritik.
Vor allem sei das Ausmaß der Kriminalisierung aber Ergebnis der »häufig eskalierenden Einsatzstrategien der Polizei«, erklärt die a.l.i. weiter. Ein Beispiel dafür sei der Einsatz der umstrittenen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) gegen die friedliche Blockade einer »Freundeskreis«-Demonstration am 22. Oktober in Duderstadt. Auch das örtliche Bürgerbündnis gegen Rechts und Beobachter hatten das Vorgehen der Beamten hier als äußerst ruppig und unverhältnismäßig beschrieben.
Berichten zufolge konnten in Duderstadt vorbestrafte und als gewalttätig bekannte Neonazis direkt hinter einer Polizeisperre Handyvideos von linken Demonstranten machen. Die Rechten seien in nur wenigen Metern Entfernung an der Blockade vorbei geleitet worden. Dabei hätten mehrere vermummte Neonazis mit »vulgären Gesten« gedroht, ihre politischen Gegner weiter gefilmt und »in hetzerischen Reden« ihre Gewaltfantasien für die Zeit nach der »nationalen Wende« ausgebreitet. Mehrere Blockierer vermummten sich daraufhin selbst.
Unmittelbar nachdem die Neonazis von der blockierten Straße abgebogen waren, stürmte die BFE in die Menge der Protestierenden und nahm drei Menschen wegen »Vermummung« fest. Durch Faust- und Stock- schläge gegen die Köpfe wurden mehrere Nazigegner verletzt, zwei mussten mit Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden. Die Polizei nannte zwei verletzte Beamte. Alleine infolge dieses Einsatzes und der nachfolgenden Auseinandersetzungen leitete die Polizei mindestens 15 Ermittlungsverfahren wegen »Widerstandes« und anderer Vorwürfe ein.
Weil sie kurz vor der Kommunalwahl im September NPD-Plakate beschädigt oder gestohlen haben sollen, sind sechs Personen von Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung und Diebstahl betroffen. Zuletzt hatte die Polizei am 10. September in Göttingen 15 junge Leute festgenommen, die versucht hatten, eine Bahnreise von NPD-Anhängern zu einer Kundgebung durch die Besetzung von Gleisen zu behindern. Wie ein Polizeisprecher auf Anfrage sagte, seien auch Steine und Pyrotechnik auf die Beamten geworfen worden. Die Festgehaltenen bestritten die Steinwürfe jedoch.
Ein erstes Verfahren begann am 10. November. Zwei Antifaschisten sind beim Göttinger Amtsgericht wegen Sachbeschädigung angeklagt. Unbekannte hatten im Januar das Auto des Rechtspopulisten Lars Steinke beschädigt. Steinke, Mitglied bei der AfD-Jugendorganisation »Junge Alternative« und in der rechten »Identitären Bewegung«, hatte mehrere Kundgebungen des »Freundeskreises« angemeldet. Für den kommenden Samstag plant der Freundeskreis bereits den nächsten Aufmarsch, diesmal in Nienburg.
»Dieses Vortäuschen einer Kundgebung ist das Eingeständnis der Nazis, dass sie nicht mehr mobilisierungsfähig sind.« Grüne Jugend Göttingen