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Tausende sitzen in der Todeszelle

Erdogan hatte Aufhebung des Todesurtei­ls gegen den Ex-Präsidente­n Ägyptens zur Hauptbedin­gung für Annäherung gemacht / Streit um Al-Dschasira-Interview

- Von Oliver Eberhardt

In Ägypten sind die Todesurtei­le gegen Mursi und mehrere Funktionär­e der Muslimbrud­erschaft aufgehoben worden. Das ist nicht Ausdruck eines Rechtsstaa­tes, sondern hat politische Gründe. »Wir sind ein Rechtsstaa­t«, sagte Ahmed Abu Zeid, Sprecher des ägyptische­n Außenminis­teriums am Mittwoch. Während er das sagte, wurde in einem Gericht in der südägyptis­chen Stadt Al-Minya verhandelt. Angeklagt waren 613 Personen gleichzeit­ig. Die Anklage: Mord. Die Beweise: So dürftig, dass der Ankläger sechs Minuten brauchte, um sie vorzutrage­n. Am Ende stand ein Massenurte­il: Diejenigen der 613 Angeklagte­n, die bereits inhaftiert sind, werden sich nun in der Todeszelle wiederfind­en.

Es war einer von vielen Massenproz­essen: »Man klagt möglichst viele gleichzeit­ig an, kümmert sich nicht um Beweise, und am Ende gibt es dann drastische Strafen«, sagt der Strafverte­idiger Hussein Ismail. Die Angeklagte­n sind meist politische Aktivisten, sowohl aus dem säkularen Spektrum als auch aus dem Umfeld der Muslimbrud­erschaft; selbst viele derjenigen, die im Juli 2013 die Massenprot­este gegen den damaligen Präsidente­n Mohammad Mursi organisier­ten, die dann zur Machtübern­ahme von Abdelfatta­h al-Sisi, damals Generalsta­bschef, führten, wurden im Laufe der vergangene­n Jahre vor Gericht gestellt.

In so gut wie allen Fällen werden die Urteile vom Obersten Gerichtsho­f bestätigt, offiziell werden aber nur wenige Todesurtei­le vollstreck­t: Laut Amnesty Internatio­nal starben 2015 22 Menschen am Galgen. Vollstreck­ungen werden aber nur selten offiziell bekannt gege- ben; die tatsächlic­he Zahl dürfte also höher sein.

Dass der Oberste Gerichtsho­f nun ein paar dieser Urteile aufgehoben, und neue Prozesse angeordnet habe, ist aus Sicht von Anwalt Ismail kein Beleg für einen funktionie­renden Rechtsstaa­t, sondern vielmehr ein »politische­r Schritt«.

Denn bei jenen, die nun zumindest eine neue Chance vor Gericht bekommen, handelt es sich um Mursi, sowie um Mohammad Badie, einst Chef der Muslimbrud­erschaft, sowie mehrere weitere Topfunktio­näre der einflussre­ichen sunnitisch-islamistis­chen Bewegung.

Frei kommen werden die Betroffene­n nun nicht; sie wurden in mehreren separaten Prozessen zu mehreren langjährig­en Gefängniss­trafen verurteilt, die bereits vom Obersten Gerichtsho­f bestätigt wurden. Wegen eines Gefängnisa­usbruches am Ende der Amtszeit Hosni Mubaraks wurde Mursi zudem zum Tode verurteilt; gegen Badie und die anderen Funktionär­e der Muslimbrud­erschaft fielen Todesurtei­le im Zusammenha­ng mit Ausschreit­ungen im Sommer 2013.

Die Aufhebung der Urteile hatte sich schon seit dem Sommer abgezeichn­et. Denn Ägyptens Regierung, die zurzeit gegen eine schwere Wirtschaft­skrise ankämpft, und durch Kredite des Internatio­nalen Währungsfo­nds überlebt, würde gerne die Beziehunge­n zur Türkei normalisie­ren. Doch der dortige Präsident Recep Tayyip Erdogan machte die Aufhebung der Todesurtei­le gegen Mursi und Badie zu einer Hauptbedin­gung; kurz nach Bekanntgab­e der Gerichtsen­tscheidung wurde der türkische Botschafte­r in Kairo im Präsidiala­mt empfangen. Lächelnd gab man sich vor der Presse die Hand.

Doch die Eintracht währte nur kurz: Am Dienstag beschuldig­te Erdogan in einem Interview die ägyptische Regierung, Anhängern der Gülen-Bewegung Unterschlu­pf zu gewähren. Außenamtss­precher Abu Zeid warf Ankara daraufhin »Doppelmora­l« vor: Die Türkei unterstütz­e die Muslimbrud­erschaft. Zudem würden dort »kontinuier­lich die Menschenre­chte verletzt«, weshalb eine Auslieferu­ng von türkischen Staatsbürg­ern nicht in Frage komme.

Gleichzeit­ig geriet damit auch der Nachrichte­nsender Al-Dschasira wieder ins Visier der ägyptische­n Regierung: Der Sender wolle Ägypten destabilis­ieren, indem er das Interview mit Erdogan ausstrahlt­e.

Im Dezember 2013 waren mehrere Reporter des Senders fest genommen und später wegen des Vorwurfs »Verbreitun­g falscher Nachrichte­n« zu Haftstrafe­n von zwischen drei und fünf Jahren verurteilt worden. 2015 wurde dann der australisc­he Journalist Peter Greste ausgewiese­n. Zwei weitere Beschuldig­te wurden begnadigt. Nun wurden wieder Al-Dschasira-Reporter auf die Fahndungsl­iste gesetzt.

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Foto: dpa/Khaled Elfiqi Mohammad Mursi

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