»Holt die Winterstiefel raus«
Eisenbahngewerkschaft EVG gibt sich konfliktbereit und selbstbewusst
Eine Bilanz der Gewerkschaftsarbeit im zu Ende gehenden Jahr und die laufende Tarifrunde standen im Mittelpunkt eines Kleinen Gewerkschaftstags der DGB-Bahngewerkschaft Mitte dieser Woche in Fulda. »Holt schon mal die Winterstiefel raus«, rief die für Tarifpolitik zuständige EVG-Vizechefin Regina Rusch-Ziemba den Delegierten zu. Damit signalisierte sie die Entschlossenheit zur Eskalation in der laufenden Tarifrunde mit der Deutschen Bahn (DB). Sollten deren Verhandlungsführer bis zum 8. Dezember keinem annehmbaren Abschluss zustimmen, so seien Warnstreiks unvermeidlich, erklärte sie.
Die EVG betritt in der Tarifrunde 2016 tarifpolitisches Neuland. Insgesamt verlangt die Gewerkschaft von der Deutschen Bahn sieben Prozent mehr. 4,5 Prozent betreffen das Entgelt. Bei 2,5 Prozent des schließlich erreichten Ergebnisses sollen die Beschäftigten frei wählen können, ob sie mehr Geld, eine Stunde Wochenarbeitszeitverkürzung oder sechs Tage mehr Jahresurlaub wollen. Die EVG tritt mit dieser Tarifforderung die Flucht nach vorn an, nachdem eine Mitgliederbefragung ergeben hatte, dass die Bedürfnisse der Eisenbahner je nach Arbeitsumfeld und konkreten Umständen höchst unterschiedlich sind. An der Befragung hatten sich rund 15 000 Mitglieder beteiligt. Überdies sind im DGB an vielen Stellen Bewegungen weg von der Stell- vertretergewerkschaft, hin zur Beteiligungsgewerkschaft zu beobachten. Dass die EVG deshalb so deutlich und entschlossen auf die Wünsche ihrer Mitglieder reagiert, und liegt voll im Trend. Das Wahlmodell sei »nicht verhandelbar«, so RuschZiemba an die Adresse des Bahnvorstands. Ein weiteres brennendes Thema für Eisenbahner im Schichtdienst ist die familienfreundliche Gestaltung der Arbeitszeit.
In seinem Grundsatzreferat unterstrich EVG-Chef Alexander Kirchner den Anspruch seiner Organisation auf Einmischung in das politische Geschehen weit über die Bahnund Verkehrspolitik hinaus. So beschäftigte er sich auch mit weltweiten Fluchtbewegungen und ihren Ursachen, Trumps Sieg in den USA, erstarkenden Rechtsparteien in Europa und Gewalttaten der deutschen Neonaziszene. Die EVG hatte vor Jahresfrist bei der DB darauf gedrängt, Geflüchteten mit speziellen Maßnahmen einen beruflichen Einstieg anzubieten. Angesichts des Vordringens rechter Populisten seien die Gewerkschaften mehr denn je gefordert, prekäre Beschäftigung zurückzudrängen und konkrete Alternativen für gute Arbeit, Schutz vor sozialem Abstieg und Altersarmut sowie eine eine stabile Sozialversicherung anzubieten, so der EVGChef.
Zu Kirchners Erfolgsbilanz gehörten die Aufsichtsratswahlen beim Transdev-Konzern, der mit rund 5300 Beschäftigten zu den großen privaten Bahn- und Busbetreibern in Deutschland zählt. Hier nimmt die EVG zusammen mit der DGBSchwestergewerkschaft ver.di alle Aufsichtsratsmandate auf der Arbeitnehmerbank ein. Und bei den letzten Personalratswahlen, die seit der Bahnprivatisierung 1994 alle vier Jahre stattfinden, konnte die EVG 76 Prozent aller Mandate erringen. Deutlich höher ist der Anteil der auf dem EVG-Ticket gewählten Mitglieder der Jugend- und Auszubilden-
»Lasst Euch von der Sozialpartnerschaft nicht besoffen reden. Die andere Seite hat den Profit und nicht unser Wohlergehen im Sinn.« Wolfgang Zell, EVG
denvertretungen (JAV): 537 von 569 Mandate, gut 94 Prozent. Kein Grund zur Zufriedenheit sei allerdings, dass hier die Wahlbeteiligung mit insgesamt 55 Prozent rückläufig sei, so Kirchner. Bei den Neueinstellungen und neuen Auszubildendenjahrgängen habe die EVG einen Organisationsgrad von 70,5 Prozent erreicht, freute er sich.
Bei aller Genugtuung über derartige Erfolge in Mitbestimmungsgremien mahnte der aus Altersgründen ausscheidende EVG-Bundesgeschäftsführer Wolfgang Zell die Delegierten zu Nüchternheit und Un- beugsamkeit in den anstehenden Auseinandersetzungen. »Lasst Euch von der Sozialpartnerschaft nicht besoffen reden«, so seine Botschaft. »Die andere Seite hat den Profit und nicht unser Wohlergehen im Sinn.« Zu seinem Nachfolger wurde der 50jährige Torsten Westphal gewählt.
Zur Stärkung des Schienenverkehrs verlangte Kirchner eine Innovationsoffensive durch die öffentliche Hand. Es sei nicht einzusehen, dass die Bundesregierung die Industrie mit Milliardenbeträgen für die Elektromobilität auf den Straßen unterstütze und die Modernisierung der Schiene vernachlässige. Im anstehenden Wahljahr 2017 soll auch die Forderung nach einer Halbierung der Trassengebühren im Mittelpunkt stehen, die jedes Eisenbahnunternehmen für die Nutzung DB-Infrastruktur zu entrichten hat. Nur so könnten die Wettbewerbsbedingungen zu Gunsten des Schienenverkehrs verbessert und die Wettbewerbsverzerrungen zu Gunsten der Straße wenigstens teilweise ausgeglichen werden, ist Kirchner überzeugt. Schließlich würden die Folgekosten des Straßenverkehrs nur teilweise durch Steuer- und Mauteinnahmen gedeckt. »Führt eine Senkung der Trassengebühren nicht zu einer weiteren Vernachlässigung der Infrastruktur?«, wollte ein Delegierter wissen. Darauf hin präzisierte Kirchner, dass der Bund in der Verantwortung stehe und deutlich mehr Geld gezielt für den Ausbau und die Erhaltung der Eisenbahninfrastruktur ausgeben müsse.