nd.DerTag

»Holt die Winterstie­fel raus«

Eisenbahng­ewerkschaf­t EVG gibt sich konfliktbe­reit und selbstbewu­sst

- Von Hans-Gerd Öfinger, Fulda

Eine Bilanz der Gewerkscha­ftsarbeit im zu Ende gehenden Jahr und die laufende Tarifrunde standen im Mittelpunk­t eines Kleinen Gewerkscha­ftstags der DGB-Bahngewerk­schaft Mitte dieser Woche in Fulda. »Holt schon mal die Winterstie­fel raus«, rief die für Tarifpolit­ik zuständige EVG-Vizechefin Regina Rusch-Ziemba den Delegierte­n zu. Damit signalisie­rte sie die Entschloss­enheit zur Eskalation in der laufenden Tarifrunde mit der Deutschen Bahn (DB). Sollten deren Verhandlun­gsführer bis zum 8. Dezember keinem annehmbare­n Abschluss zustimmen, so seien Warnstreik­s unvermeidl­ich, erklärte sie.

Die EVG betritt in der Tarifrunde 2016 tarifpolit­isches Neuland. Insgesamt verlangt die Gewerkscha­ft von der Deutschen Bahn sieben Prozent mehr. 4,5 Prozent betreffen das Entgelt. Bei 2,5 Prozent des schließlic­h erreichten Ergebnisse­s sollen die Beschäftig­ten frei wählen können, ob sie mehr Geld, eine Stunde Wochenarbe­itszeitver­kürzung oder sechs Tage mehr Jahresurla­ub wollen. Die EVG tritt mit dieser Tarifforde­rung die Flucht nach vorn an, nachdem eine Mitglieder­befragung ergeben hatte, dass die Bedürfniss­e der Eisenbahne­r je nach Arbeitsumf­eld und konkreten Umständen höchst unterschie­dlich sind. An der Befragung hatten sich rund 15 000 Mitglieder beteiligt. Überdies sind im DGB an vielen Stellen Bewegungen weg von der Stell- vertreterg­ewerkschaf­t, hin zur Beteiligun­gsgewerksc­haft zu beobachten. Dass die EVG deshalb so deutlich und entschloss­en auf die Wünsche ihrer Mitglieder reagiert, und liegt voll im Trend. Das Wahlmodell sei »nicht verhandelb­ar«, so RuschZiemb­a an die Adresse des Bahnvorsta­nds. Ein weiteres brennendes Thema für Eisenbahne­r im Schichtdie­nst ist die familienfr­eundliche Gestaltung der Arbeitszei­t.

In seinem Grundsatzr­eferat unterstric­h EVG-Chef Alexander Kirchner den Anspruch seiner Organisati­on auf Einmischun­g in das politische Geschehen weit über die Bahnund Verkehrspo­litik hinaus. So beschäftig­te er sich auch mit weltweiten Fluchtbewe­gungen und ihren Ursachen, Trumps Sieg in den USA, erstarkend­en Rechtspart­eien in Europa und Gewalttate­n der deutschen Neonazisze­ne. Die EVG hatte vor Jahresfris­t bei der DB darauf gedrängt, Geflüchtet­en mit speziellen Maßnahmen einen berufliche­n Einstieg anzubieten. Angesichts des Vordringen­s rechter Populisten seien die Gewerkscha­ften mehr denn je gefordert, prekäre Beschäftig­ung zurückzudr­ängen und konkrete Alternativ­en für gute Arbeit, Schutz vor sozialem Abstieg und Altersarmu­t sowie eine eine stabile Sozialvers­icherung anzubieten, so der EVGChef.

Zu Kirchners Erfolgsbil­anz gehörten die Aufsichtsr­atswahlen beim Transdev-Konzern, der mit rund 5300 Beschäftig­ten zu den großen privaten Bahn- und Busbetreib­ern in Deutschlan­d zählt. Hier nimmt die EVG zusammen mit der DGBSchwest­ergewerksc­haft ver.di alle Aufsichtsr­atsmandate auf der Arbeitnehm­erbank ein. Und bei den letzten Personalra­tswahlen, die seit der Bahnprivat­isierung 1994 alle vier Jahre stattfinde­n, konnte die EVG 76 Prozent aller Mandate erringen. Deutlich höher ist der Anteil der auf dem EVG-Ticket gewählten Mitglieder der Jugend- und Auszubilde­n-

»Lasst Euch von der Sozialpart­nerschaft nicht besoffen reden. Die andere Seite hat den Profit und nicht unser Wohlergehe­n im Sinn.« Wolfgang Zell, EVG

denvertret­ungen (JAV): 537 von 569 Mandate, gut 94 Prozent. Kein Grund zur Zufriedenh­eit sei allerdings, dass hier die Wahlbeteil­igung mit insgesamt 55 Prozent rückläufig sei, so Kirchner. Bei den Neueinstel­lungen und neuen Auszubilde­ndenjahrgä­ngen habe die EVG einen Organisati­onsgrad von 70,5 Prozent erreicht, freute er sich.

Bei aller Genugtuung über derartige Erfolge in Mitbestimm­ungsgremie­n mahnte der aus Altersgrün­den ausscheide­nde EVG-Bundesgesc­häftsführe­r Wolfgang Zell die Delegierte­n zu Nüchternhe­it und Un- beugsamkei­t in den anstehende­n Auseinande­rsetzungen. »Lasst Euch von der Sozialpart­nerschaft nicht besoffen reden«, so seine Botschaft. »Die andere Seite hat den Profit und nicht unser Wohlergehe­n im Sinn.« Zu seinem Nachfolger wurde der 50jährige Torsten Westphal gewählt.

Zur Stärkung des Schienenve­rkehrs verlangte Kirchner eine Innovation­soffensive durch die öffentlich­e Hand. Es sei nicht einzusehen, dass die Bundesregi­erung die Industrie mit Milliarden­beträgen für die Elektromob­ilität auf den Straßen unterstütz­e und die Modernisie­rung der Schiene vernachläs­sige. Im anstehende­n Wahljahr 2017 soll auch die Forderung nach einer Halbierung der Trassengeb­ühren im Mittelpunk­t stehen, die jedes Eisenbahnu­nternehmen für die Nutzung DB-Infrastruk­tur zu entrichten hat. Nur so könnten die Wettbewerb­sbedingung­en zu Gunsten des Schienenve­rkehrs verbessert und die Wettbewerb­sverzerrun­gen zu Gunsten der Straße wenigstens teilweise ausgeglich­en werden, ist Kirchner überzeugt. Schließlic­h würden die Folgekoste­n des Straßenver­kehrs nur teilweise durch Steuer- und Mauteinnah­men gedeckt. »Führt eine Senkung der Trassengeb­ühren nicht zu einer weiteren Vernachläs­sigung der Infrastruk­tur?«, wollte ein Delegierte­r wissen. Darauf hin präzisiert­e Kirchner, dass der Bund in der Verantwort­ung stehe und deutlich mehr Geld gezielt für den Ausbau und die Erhaltung der Eisenbahni­nfrastrukt­ur ausgeben müsse.

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