Diese Droge als Überschuss
Luk Perceval inszenierte am Thalia Theater Hamburg »Geld« nach Zola
Bei Geld hört die Freundschaft auf? Das ist so wahr wie manches andere: Stets ist der Mensch wilder als die Zivilisation, die er lebt; stets ist er rückständiger als der Fortschritt, den er betreibt; in seinem existenziellen Anspruch ist er lächerlicher, verzweifelter, als er sich je zugestehen darf. Denn in den Ordnungen, die er schafft, schafft sich der Mensch meistens nur ab: Existenz – das ist der schleichende Konkurs, der aber fortwährend und selbsttäuschend als Gründung angemeldet wird.
Luk Perceval, der mystisch befeuerte Flame, sucht in seinem Regiewerk nach dem Punkt, da Helle und Hölle des Strebens, des Glücks wie in einem Brennspiegel zu jenem Punkt kommen, der das Gute und Böse ununterscheidbar macht. Derzeit gräbt er am Thalia Theater Hamburg im zwanzigbändigen Romankosmos »Les Rougon-Macquart« von Emile Zola. »Trilogie meiner Familie« heißt der Herausfilterungsversuch, dessen erster Teil »Liebe« im vergangenen Jahr uraufgeführt wurde; der zweite Teil, »Geld«, hatte kürzlich Premiere, und in der kommenden Spielzeit folgt »Natur«.
Es ist die Zeit der ersten industriellen Revolution. Das Hässliche, das Vulgäre und das Rohe finden Eingang in die Literatur. Der Blick auf die Welt wird wissenschaftlich kühl. Lektionen im Geiste von Marx und Darwin. Statt eines Schicksals, das den Helden ereilt, erscheint das Verhängnis in den Romanen Zolas als ein Experiment mit fast vorhersehbarem Ergebnis. Fast! Denn im Knäuel dreier Dinge – dem Milieu des Menschen, seiner biologischen Verfasstheit und beider Konfrontation mit dem jeweiligen historischen Moment – verknotet sich das letztlich Unerforschbare heftiger denn je.
Drei Romane (»Nana«, »Das Geld«, »Das Paradies der Damen«) – ver- dichtet zu zwei packenden Stunden aus Schrei und Schwermut, aus reichem Elend und gossigem Glanz, aus Sehnen und Süchten. Die Bühne von Annette Kurz ist eine Welle aus Holz, auf dem Kamm der Woge ein hell erleuchteter Paravan, hinter dem Nana ihre Nuttenexotik schattenspielt. Noch höher, an der Hinterbühnenwand, klirren, knallen Bleche, tönen, scheppern Röhren, schrillen, ziehen Saiten; in der Live-Musik von Ferdinand Försch übergibt die Kathedrale den Heiligenton der Fabrik und aus Klang wird ein hartes, unbarmherziges Schrammen. Kleine Kreidekreuze auf den Bühnenbrettern zeigen Vermes- sung und Registrierung an, als seien die Seewege fest in der Hand von Lageristen. Vierzehn Schreibmaschinen sind im Raum verteilt: Phantasie und Mechanik greifen ineinander wie Finanzen und Fleisch – der Mensch wird Kaufkraft und Koofmich, man geht abenteuernd an Bord und abends ins teure Bordell.
Zwölf Schauspieler bleiben permanent auf der Bühne, liegend, gehend, sich krümmend, starr oder schleichend, versunken und verstiegen, so schlagend wie geschlagen – Perceval filetiert den großen Romanleib, fügt Handlungspartikel aneinander, springt, jagt, hält ein, springt weiter – ein Puzzle entsteht, ein Kaleidoskop: Kolonisation ist Kulturtat, na klar, aber eben auch Kriminalität; die Hure ist Perle und Plebs; Familie hält, aber schlägt auch in die Flucht; Besitz ist Fluidum und Fluch; Gründerzeit – auf nach Syrien! – ist Progress und »Pornografie« (Pasolini).
Was wird erzählt? Die Geschichte eines Luxus-Kaufhauses, die InfarktBiografie einer finanziellen Spekulation sowie Episoden um sexuelle Hörigkeit und den Gewöhnungssumpf einer Ehe – die Darsteller faszinieren durch die Energie der Plötzlichkeit, mit der sie in die jeweiligen Short Cuts springen. Sebastian Rudolph bietet das Bild eines Urkapitalisten zwischen kühner Intelligenz und kläglichem Lebensgefühl; grausam seine Techniken der Menschenvernutzung, erbarmenswert aber seine unglückliche Gabe, sich selber durchschauen zu können. Großartig auch Gabriela Maria Schmeide als seine Mätresse: wie sie aufblüht, wenn er sein Geldwerben mit dem graziösen Streicheln ihrer körperlichen Kurven untermalt. Und aufreizend frech, wenn sie kichernd und prustend über den Schwachsinn spricht, jahrzehntelang einem Mann treu sein zu sollen, nur weil man den in einem Moment des Zufalls kennenlernte.
Die Nana der Maja Schöne posiert als Femme fatal des höherklassigen Bordells, sie glänzt und gleißt und girrt als raffinierte Diva – um im Wahn einer Zerstörten zu enden, die aus einem Nachttopf Scheiße frisst. Barbara Nüsse kriecht, klappert, schleicht durch die fast schon totenstarre Gier eines alten Grafen, der sich von Nana für ein letztes Zucken seiner Begierden entwürdigen lässt. Ein parabolisch wirkendes Porträt dieser elend Alten, die ihre Nähe zur Grube nicht wahrhaben wollen – indem sie mit Krückstock zu turnen versuchen. Patrycia Ziolkowska gibt eine Verkäuferin im Kaufhaus, die das Gegenbild zur schillernd lasziven und verderbten Nana verkörpert: ein fast gewerkschaftlicher Vorgriff auf »das Jahrhundert der Frau, das noch nicht angebrochen ist« (Heiner Müller).
Perceval installiert gewissermaßen Musik – mit Mitteln des Körperlichen; von seinen Verdeutlichungen und Überzeichnungen weiß er, dass sie ihn didaktisch werden lassen – und er wird nurmehr deutlicher denn je. Etwa, wenn er die Vermehrungslust des Kapitals in sexuelle Zuckungen aller Spieler übersetzt. Deutlich wird das Zerstörungsfieber imperialer Lüste; Perceval erzählt eine Welt, die am allerwenigsten nach Seele fragt; er erzählt mit einer Erschütterung, die nicht heilsam, nicht tröstend ist, aber doch in Unruhe versetzt. Spiel bleibt hier ein zitterndes oder bleiernes Geflecht von Bewegungen und Tönen, von Choreografie und Musik. Percevals Theater lässt den Menschen zwischen Natur und Kultur, zwischen vorbestimmter Vergeblichkeit und rebellischer Energie tänzerisch taumeln – in eine Mitte hinein, wo die Entfernungen zum Leben und zum Tod einander aufheben.
Luk Perceval kennt den Kapitalismus. Mit seinen Eltern, Binnenschiffern, fuhr er als Kind oft auf dem Rhein, von Antwerpen nach Duisburg, »auf der Hinfahrt mit Tropenholz aus Afrika und zurück mit Stahl aus dem Ruhrgebiet«. Später ging das Schiff unter, »wir waren, ganz einfach ausgedrückt, arm.« So wachsen Fühler in die Gesellschaft hinein. Geld! Diese Droge als Überschuss, der Gold wert ist, und als Goldener Schuss zugleich. Albert Camus sagte, es gebe vieles, das unabhängig mache, jedoch nur eines, das Freiheit bringe: Geld. Er hat wohl recht. Luk Perceval ist das Gegenteil eines Utopisten, er wirft uns mit seiner Zola-Version eine verderbte Szenerie hin, die in ihren historischen Kostümen doch sehr gegenwärtig wirkt. Und drückend. Aber ach, vielleicht gibt es hinter allem, was wir leben, doch diese eine witzige Träumerei: Bei Geld fängt die Freundschaft an.
Es ist die Zeit der ersten industriellen Revolution. Das Hässliche, das Vulgäre und das Rohe finden Eingang in die Literatur. »Wenn ein Mensch behauptet, mit Geld ließe sich alles erreichen, darf man sicher sein, dass er nie welches gehabt hat.« Aristoteles Onassis
Nächste Vorstellung: 22.11.