Woher Erdogans Rückhalt stammt
Angesichts massiver Repressalien, diktatorischer Regierungsführung, spalterischer Hassrhetorik und der De-facto-Ausschaltung der türkischen Opposition wird in der kritischen Berichterstattung gefragt, warum der Möchtegernsultan vom Bosporus weiterhin über einen derart großen gesellschaftlichen Rückhalt in der Türkei verfügt: Warum Erdoğan? Besser wäre es jedoch danach zu fragen, was die eigentlichen Gründe für den bisherigen AKP-Erfolg sind. Denn die charismatische Führerfigur Erdoğan ist nicht alleine für diesen verantwortlich.
Der erste Grund ist die »Alternativlosigkeit« der AKP. Es existiert nun einmal keine andere politische Formation, die glaubhafte Konzepte für die Lösung der Probleme des Landes aufzeigen kann. Zumal zwischen der AKP und den bürgerlichen Oppositionsparteien CHP (Sozialdemokraten) und MHP (Nationalisten) keine programmatischen Unterschiede mehr sichtbar sind. Die einzige »echte« Oppositionspartei HDP ist aufgrund der gesellschaftlichen Polarisierung für die sunnitisch-konservative Mehrheit »der Feind« schlechthin und stellt für diese Mehrheit keine wählbare Alternative dar.
Auch die türkische Linke kann sich nicht als Wahlalternative anbieten, obwohl sich die Mehrheit der AKP-Wählerschaft aus Lohnabhängigen und ärmeren Bevölkerungsschichten rekrutiert. Die nach dem Militärputsch von 1980 völlig zerschlagene Linke hat es bis heute nicht bewerkstelligen können, die vorhandene Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsgruppen in Form eines starken gesellschaftlichen Oppositionsbündnisses zu kanalisieren. Zudem führte die unsolidarische Haltung von Teilen der türkischen Linken gegenüber der kurdischen Be- freiungsbewegung zur weiteren Zersplitterung der Linken. Dagegen schaffte es die AKP, mit ihrer »passiven Revolution« (Cihan Tuğal) und ihren Lösungsversprechungen die unzufriedenen Massen unter ihrem »identitär-sunnitisch-nationalistischen« Dach zu versammeln.
Hinzu kommt das pragmatische Empfinden der Bevölkerung: Viele sehen die nationalistisch-konservative Haltung als gewinnbringend in ihrem alltäglichen Überlebenskampf an: Sie bringt bevorzugte Behandlung in den Amtsstuben, Sach- und Geldleistungen von Kommunalverwaltungen und islamistischen Stiftungen. Konsumförderung durch Niedrigzinspolitik und vereinfachte Kreditkartenvergabe sowie diverse Verrentungsmöglichkeiten verstärken diese Interpretation. Während das Regime mit den hohen Kapitalzuflüssen aus dem Ausland (jährlich im Durchschnitt 13 Mrd. US-Dollar) das chronische Haushaltsdefizit etwas mildern kann, wird mit MegaInfrastrukturmaßnahmen die Binnenkonjunktur angekurbelt. Mit ihrer starken Führungsfigur Erdoğan als »Verteidiger des Islams gegen den Westen, der sich von ausländischen Mächten nichts vorschreiben lässt«, gaukelt die AKP Stabilität vor. Selbst starke Kursverluste der türkischen Lira und die hohe Arbeitslosenquote von über elf Prozent können dieses Bild nicht erschüttern. Denn substanzlose Kritik europäischer Eliten an Erdoğan, die im gleichen Atemzug die »Wichtigkeit der Türkei für die EU« unterstreichen, nützt der AKP-Demagogie und erhöht die gesellschaftliche Zustimmung für das Regime.
Aber ein weiterer wichtiger Grund für die Zustimmung ist die weit verbreitete Angst. Angst vor Repressalien, gesellschaftlicher Ächtung, vor Verlust des Arbeitsplatzes, des Ansehens oder gar des gesamten Vermögens macht die Massen gefügig. Inzwischen kontrollieren die staatlichen Treuhänder enteignete Vermögensund Unternehmenswerte, die denen der großen türkischen Monopole entsprechen. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes sowie in den gleichgeschalteten Medien und der Justiz sehen die Menschen jeden Tag, was AKP-Widersachern alles blüht.
Doch nachhaltig ist das alles nicht: Der außenpolitische Druck wächst, die Wirtschaft schrumpft, die türkische Großbourgeoisie wird nervös, die Staatsverschuldung nimmt zu. Unternehmensenteignungen werden von ausländischen Investoren mit Sorge gesehen, die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich und die Berichte über die massive Bewaffnung gesellschaftlicher Gruppen wirken bedrohlich. Noch können sich Erdoğan und die AKP der politischen Unterstützung der MHP und teilweise der CHP sicher sein. Abzuwarten bleibt allerdings, ob in dem geplanten Referendum über das Präsidialsystem die 50-Prozent-Marke geknackt werden kann. Das wäre der Türkei in der Tat nicht zu wünschen.