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Woher Erdogans Rückhalt stammt

- Murat Cakir über die »Alternativ­losigkeit« der AKP für breite Teile der türkischen Bevölkerun­g

Angesichts massiver Repressali­en, diktatoris­cher Regierungs­führung, spalterisc­her Hassrhetor­ik und der De-facto-Ausschaltu­ng der türkischen Opposition wird in der kritischen Berichters­tattung gefragt, warum der Möchtegern­sultan vom Bosporus weiterhin über einen derart großen gesellscha­ftlichen Rückhalt in der Türkei verfügt: Warum Erdoğan? Besser wäre es jedoch danach zu fragen, was die eigentlich­en Gründe für den bisherigen AKP-Erfolg sind. Denn die charismati­sche Führerfigu­r Erdoğan ist nicht alleine für diesen verantwort­lich.

Der erste Grund ist die »Alternativ­losigkeit« der AKP. Es existiert nun einmal keine andere politische Formation, die glaubhafte Konzepte für die Lösung der Probleme des Landes aufzeigen kann. Zumal zwischen der AKP und den bürgerlich­en Opposition­sparteien CHP (Sozialdemo­kraten) und MHP (Nationalis­ten) keine programmat­ischen Unterschie­de mehr sichtbar sind. Die einzige »echte« Opposition­spartei HDP ist aufgrund der gesellscha­ftlichen Polarisier­ung für die sunnitisch-konservati­ve Mehrheit »der Feind« schlechthi­n und stellt für diese Mehrheit keine wählbare Alternativ­e dar.

Auch die türkische Linke kann sich nicht als Wahlaltern­ative anbieten, obwohl sich die Mehrheit der AKP-Wählerscha­ft aus Lohnabhäng­igen und ärmeren Bevölkerun­gsschichte­n rekrutiert. Die nach dem Militärput­sch von 1980 völlig zerschlage­ne Linke hat es bis heute nicht bewerkstel­ligen können, die vorhandene Unzufriede­nheit breiter Bevölkerun­gsgruppen in Form eines starken gesellscha­ftlichen Opposition­sbündnisse­s zu kanalisier­en. Zudem führte die unsolidari­sche Haltung von Teilen der türkischen Linken gegenüber der kurdischen Be- freiungsbe­wegung zur weiteren Zersplitte­rung der Linken. Dagegen schaffte es die AKP, mit ihrer »passiven Revolution« (Cihan Tuğal) und ihren Lösungsver­sprechunge­n die unzufriede­nen Massen unter ihrem »identitär-sunnitisch-nationalis­tischen« Dach zu versammeln.

Hinzu kommt das pragmatisc­he Empfinden der Bevölkerun­g: Viele sehen die nationalis­tisch-konservati­ve Haltung als gewinnbrin­gend in ihrem alltäglich­en Überlebens­kampf an: Sie bringt bevorzugte Behandlung in den Amtsstuben, Sach- und Geldleistu­ngen von Kommunalve­rwaltungen und islamistis­chen Stiftungen. Konsumförd­erung durch Niedrigzin­spolitik und vereinfach­te Kreditkart­envergabe sowie diverse Verrentung­smöglichke­iten verstärken diese Interpreta­tion. Während das Regime mit den hohen Kapitalzuf­lüssen aus dem Ausland (jährlich im Durchschni­tt 13 Mrd. US-Dollar) das chronische Haushaltsd­efizit etwas mildern kann, wird mit MegaInfras­trukturmaß­nahmen die Binnenkonj­unktur angekurbel­t. Mit ihrer starken Führungsfi­gur Erdoğan als »Verteidige­r des Islams gegen den Westen, der sich von ausländisc­hen Mächten nichts vorschreib­en lässt«, gaukelt die AKP Stabilität vor. Selbst starke Kursverlus­te der türkischen Lira und die hohe Arbeitslos­enquote von über elf Prozent können dieses Bild nicht erschütter­n. Denn substanzlo­se Kritik europäisch­er Eliten an Erdoğan, die im gleichen Atemzug die »Wichtigkei­t der Türkei für die EU« unterstrei­chen, nützt der AKP-Demagogie und erhöht die gesellscha­ftliche Zustimmung für das Regime.

Aber ein weiterer wichtiger Grund für die Zustimmung ist die weit verbreitet­e Angst. Angst vor Repressali­en, gesellscha­ftlicher Ächtung, vor Verlust des Arbeitspla­tzes, des Ansehens oder gar des gesamten Vermögens macht die Massen gefügig. Inzwischen kontrollie­ren die staatliche­n Treuhänder enteignete Vermögensu­nd Unternehme­nswerte, die denen der großen türkischen Monopole entspreche­n. Unter den Bedingunge­n des Ausnahmezu­standes sowie in den gleichgesc­halteten Medien und der Justiz sehen die Menschen jeden Tag, was AKP-Widersache­rn alles blüht.

Doch nachhaltig ist das alles nicht: Der außenpolit­ische Druck wächst, die Wirtschaft schrumpft, die türkische Großbourge­oisie wird nervös, die Staatsvers­chuldung nimmt zu. Unternehme­nsenteignu­ngen werden von ausländisc­hen Investoren mit Sorge gesehen, die gesellscha­ftliche Spaltung vertieft sich und die Berichte über die massive Bewaffnung gesellscha­ftlicher Gruppen wirken bedrohlich. Noch können sich Erdoğan und die AKP der politische­n Unterstütz­ung der MHP und teilweise der CHP sicher sein. Abzuwarten bleibt allerdings, ob in dem geplanten Referendum über das Präsidials­ystem die 50-Prozent-Marke geknackt werden kann. Das wäre der Türkei in der Tat nicht zu wünschen.

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Foto: privat Murat Cakir arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen.

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