Drohnen in allen Größen
In der Science-Fiction boomen seit Jahren Erzählungen, die man als Gegenentwurf zu Thomas Morus’ »Utopia« bezeichnen könnte. Das kann man durchaus als Ausdruck einer neoliberalen Hegemonie verstehen, in der Utopien erst gar nicht mehr formuliert werden. Wobei die Dystopien vor allem im Bereich des Films weniger eine Kritik am Bestehenden sind. Vielmehr inszenieren sie eine herrschaftsförmige Rationalisierung der Kontrollgesellschaft und stellen starke Führungsfiguren ins Zentrum kri- senhafter Ereignisse, etwa in der Popkult-Fernsehserie »The 100« oder in dem Blockbuster »World War Z«.
Weitaus differenzierter geht es da in der Literatur zu, wo mitunter ebenso anspruchsvolle wie kritische Dystopien zu finden sind. Das gilt für Marge Piercys Roman »Er, sie und es« von 1990, einen der vielleicht besten Science-Fiction-Romane des 20. Jahrhunderts, der lange Zeit vergriffen war und nun endlich wieder auf Deutsch lieferbar ist. Aber auch der neu erschienene Roman »V oder die vierte Wand« der 1978 geborenen, in Berlin lebenden Anja Kümmel ist ein komplexes literarisches Werk, das ebenso wie Piercys Klassiker mögliche Bedrohungen durch neue Technologien thematisiert.
Bei Piercy sind es die biotechnologischen Veränderungen des Menschen in einer marktradikal-neoliberalen Welt der Zukunft und damit einhergehende ethische Fragestellungen. Anja Kümmel beschäftigt sich mit digitaler Vernetzung in einer düsteren futuristischen Welt voll ausgereifter Überwachungstechnologie.
Künstlich modifizierte Körper sind in der hyperkapitalistischen und postatomaren Welt in Marge Piercys Roman »Er, sie und es« das Normale. Die Menschen leben in Konzernsiedlungen unter gigantischen Schutzdächern, einige freie Städte existieren neben einem riesigen Slum, der von kriminellen Gangs beherrscht wird.
Die Softwareentwicklerin Shira arbeitet in einer kibbuzartigen Siedlung an der Ostküste der früheren USA an einem Geheimprojekt. Dabei wird Jod, ein von Menschen nicht zu unterscheidender Cyborg, gebaut, der die Stadt vor Konzern-Angriffen schützen soll. Shira geht mit Jod schließlich eine Liebesbeziehung ein. Auch wenn der Cyborg eigentlich als Verteidigungswaffe konzipiert wurde, wird er zu einem weiteren Bürger der freien Siedlung. In der Folge wird von den Bewohnern kontrovers über seinen rechtlichen Status diskutiert. Hat er die vollen Bürgerrechte? Andere Menschen sind ebenfalls durch künstliche Modifizierungen mit besonderen Kräften ausgestattet. Nur, wo hört der Mensch auf und wo fängt der künstliche Organismus an?
Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen in Piercys Roman mit fortlaufender Handlung immer mehr. Der Geschichte um Jod sind Rückblenden ins Prag der frühen Neuzeit gegenübergestellt, wo sich die jüdische Gemeinde mit Hilfe eines Golems gegen die fanatischen Übergriffe der Christen wehrt. Marge Piercys Roman war inspiriert vom »Cyborg-Manifest« der Feministin Donna Harraway. Die propagierte in ihrem 1985 erschienenen und in jüngster Zeit von linken und feministischen Politgruppen wieder vermehrt rezipierten Text eine subversive Aneignung technologischer Entwicklungen als Strategie im Kampf gegen kapitalistische Herr- schaft. Unter dem Titel »Monströse Versprechen« soll das inzwischen vergriffene Manifest im Januar nächsten Jahres wieder auf Deutsch mit einer aktuellen Einführung von Frigga Haug erscheinen.
Damit schrieb Haraway – zu einer Zeit, als Star Wars nicht nur als Zukunftsmärchen im Kino boomte, sondern auch in Form von Ronald Reagans SDI-Projekt die Rüstungsspirale anheizte –, über die gleichzeitig repressiven und emanzipatorischen Möglichkeiten neuer Technologien. Insofern steckt in dem Manifest ebenso wie in Piercys Roman ein utopisches Element. In »Er, sie und es« ist die Selbstermächtigung des Cyborg als eigenständiges Wesen zentraler Bestandteil sozialer Aushandlungen. Gleichzeitig beginnen sich die Bewohner des Slums mittels eines neuen internetartigen Kommunikationssystems zu vernetzen und basisgewerkschaftliche Kämpfe zu organisieren.
Ein solidarisches Miteinander findet sich dagegen in Anja Kümmels Roman »V oder die vierte Wand« kaum. Auch wenn ihre beiden Hauptpersonen, die durch einen Riss in der Zeit fallen und sich in einem dystopischen parallelweltlichen London wiederfinden, schließlich in der größten Not einander beistehen.
Der junge Mexikaner Mesca will im Jahr 1980 auf der Suche nach seinem Liebhaber von Los Angeles nach London, landet aber in einer düste- ren heruntergekommenen Metropole voller Gewalt und für ihn fremder Technologie. Drohnen in allen Formen und Größen fliegen durch eine postapokalyptische Stadt, wo ihm schließlich ein geheimnisvoller Mann in einem Hasenkostüm begegnet.
In einer weiteren Erzählebene fährt die Isländerin Fenna Mitte des 21. Jahrhunderts nach London, wo sie einen Auftragsmord ausführen soll. Stattdessen landet sie in einem unwirklichen London der frühen 1980er Jahre voller Punks, New WaveKultur und gewalttätiger Nazis. Schließlich begegnen sich die beiden in der Zeit verloren gegangenen Reisenden in einem abgerissenen Sanatorium am Rande Londons und versuchen, einander zu verstehen, was aber kaum gelingt.
In Anja Kümmels Roman treffen zwei gänzlich verschiedene Kulturen sozialen Interagierens aufeinander. Der schwule kalifornische Punk Mesca kommt mit der vernetzten Welt der Zukunft nicht zurecht, in der die meisten Menschen Implantate besitzen, um in Sekundenschnelle Daten über ihr soziales Gegenüber abzurufen. Fenna aus der Zukunft wiederum fühlt sich völlig überfordert, mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen und ohne Datenströme ihr Sozialleben und ihren Alltag zu organisieren.
In dieser vernetzten Zukunft gibt es das »fear of logging out«-Syndrom als Krankheitsbild. Und zwischen all den »Likes« der 7 Milliarden Menschen, die per Implantat in dem Netzwerk »LifeLine« eingeloggt sind, ist eine dauerhafte Überwachung gewährleistet, wobei Fenna klar wird, dass die auf Freiwilligkeit beruht durch die selbst gewählte Art der Kommunikation.
Anja Kümmel inszeniert diese Zeitreisegeschichte literarisch ungemein dicht in einer faszinierenden und düsteren urbanen Zukunft, die an J. G. Ballard Romane und Ridley Scotts »Blade Runner« erinnert. Im Gegensatz zu Marge Piercy, in deren Dystopie von 1990 sich – wenn auch nur marginal – ein utopisches Potenzial entfaltet, bleiben Kümmels Figuren in ihrer vernetzten Welt gefangen. Marge Piercy: Er, sie und es. Roman. Argument Verlag, 552 S., geb., 29 €; Anja Kümmel: V oder die vierte Wand. Roman. Hablizel Verlag, 380 S., br., 18,90 €; Donna Harraway: Monströse Versprechen. Argument Verlag, 300 S., br., 27 €, erscheint im Januar 2017.
Gefangen in einer vernetzten Welt