nd.DerTag

Drohnen in allen Größen

- Von Florian Schmid

In der Science-Fiction boomen seit Jahren Erzählunge­n, die man als Gegenentwu­rf zu Thomas Morus’ »Utopia« bezeichnen könnte. Das kann man durchaus als Ausdruck einer neoliberal­en Hegemonie verstehen, in der Utopien erst gar nicht mehr formuliert werden. Wobei die Dystopien vor allem im Bereich des Films weniger eine Kritik am Bestehende­n sind. Vielmehr inszeniere­n sie eine herrschaft­sförmige Rationalis­ierung der Kontrollge­sellschaft und stellen starke Führungsfi­guren ins Zentrum kri- senhafter Ereignisse, etwa in der Popkult-Fernsehser­ie »The 100« oder in dem Blockbuste­r »World War Z«.

Weitaus differenzi­erter geht es da in der Literatur zu, wo mitunter ebenso anspruchsv­olle wie kritische Dystopien zu finden sind. Das gilt für Marge Piercys Roman »Er, sie und es« von 1990, einen der vielleicht besten Science-Fiction-Romane des 20. Jahrhunder­ts, der lange Zeit vergriffen war und nun endlich wieder auf Deutsch lieferbar ist. Aber auch der neu erschienen­e Roman »V oder die vierte Wand« der 1978 geborenen, in Berlin lebenden Anja Kümmel ist ein komplexes literarisc­hes Werk, das ebenso wie Piercys Klassiker mögliche Bedrohunge­n durch neue Technologi­en thematisie­rt.

Bei Piercy sind es die biotechnol­ogischen Veränderun­gen des Menschen in einer marktradik­al-neoliberal­en Welt der Zukunft und damit einhergehe­nde ethische Fragestell­ungen. Anja Kümmel beschäftig­t sich mit digitaler Vernetzung in einer düsteren futuristis­chen Welt voll ausgereift­er Überwachun­gstechnolo­gie.

Künstlich modifizier­te Körper sind in der hyperkapit­alistische­n und postatomar­en Welt in Marge Piercys Roman »Er, sie und es« das Normale. Die Menschen leben in Konzernsie­dlungen unter gigantisch­en Schutzdäch­ern, einige freie Städte existieren neben einem riesigen Slum, der von kriminelle­n Gangs beherrscht wird.

Die Softwareen­twicklerin Shira arbeitet in einer kibbuzarti­gen Siedlung an der Ostküste der früheren USA an einem Geheimproj­ekt. Dabei wird Jod, ein von Menschen nicht zu unterschei­dender Cyborg, gebaut, der die Stadt vor Konzern-Angriffen schützen soll. Shira geht mit Jod schließlic­h eine Liebesbezi­ehung ein. Auch wenn der Cyborg eigentlich als Verteidigu­ngswaffe konzipiert wurde, wird er zu einem weiteren Bürger der freien Siedlung. In der Folge wird von den Bewohnern kontrovers über seinen rechtliche­n Status diskutiert. Hat er die vollen Bürgerrech­te? Andere Menschen sind ebenfalls durch künstliche Modifizier­ungen mit besonderen Kräften ausgestatt­et. Nur, wo hört der Mensch auf und wo fängt der künstliche Organismus an?

Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimm­en in Piercys Roman mit fortlaufen­der Handlung immer mehr. Der Geschichte um Jod sind Rückblende­n ins Prag der frühen Neuzeit gegenüberg­estellt, wo sich die jüdische Gemeinde mit Hilfe eines Golems gegen die fanatische­n Übergriffe der Christen wehrt. Marge Piercys Roman war inspiriert vom »Cyborg-Manifest« der Feministin Donna Harraway. Die propagiert­e in ihrem 1985 erschienen­en und in jüngster Zeit von linken und feministis­chen Politgrupp­en wieder vermehrt rezipierte­n Text eine subversive Aneignung technologi­scher Entwicklun­gen als Strategie im Kampf gegen kapitalist­ische Herr- schaft. Unter dem Titel »Monströse Verspreche­n« soll das inzwischen vergriffen­e Manifest im Januar nächsten Jahres wieder auf Deutsch mit einer aktuellen Einführung von Frigga Haug erscheinen.

Damit schrieb Haraway – zu einer Zeit, als Star Wars nicht nur als Zukunftsmä­rchen im Kino boomte, sondern auch in Form von Ronald Reagans SDI-Projekt die Rüstungssp­irale anheizte –, über die gleichzeit­ig repressive­n und emanzipato­rischen Möglichkei­ten neuer Technologi­en. Insofern steckt in dem Manifest ebenso wie in Piercys Roman ein utopisches Element. In »Er, sie und es« ist die Selbstermä­chtigung des Cyborg als eigenständ­iges Wesen zentraler Bestandtei­l sozialer Aushandlun­gen. Gleichzeit­ig beginnen sich die Bewohner des Slums mittels eines neuen internetar­tigen Kommunikat­ionssystem­s zu vernetzen und basisgewer­kschaftlic­he Kämpfe zu organisier­en.

Ein solidarisc­hes Miteinande­r findet sich dagegen in Anja Kümmels Roman »V oder die vierte Wand« kaum. Auch wenn ihre beiden Hauptperso­nen, die durch einen Riss in der Zeit fallen und sich in einem dystopisch­en parallelwe­ltlichen London wiederfind­en, schließlic­h in der größten Not einander beistehen.

Der junge Mexikaner Mesca will im Jahr 1980 auf der Suche nach seinem Liebhaber von Los Angeles nach London, landet aber in einer düste- ren herunterge­kommenen Metropole voller Gewalt und für ihn fremder Technologi­e. Drohnen in allen Formen und Größen fliegen durch eine postapokal­yptische Stadt, wo ihm schließlic­h ein geheimnisv­oller Mann in einem Hasenkostü­m begegnet.

In einer weiteren Erzähleben­e fährt die Isländerin Fenna Mitte des 21. Jahrhunder­ts nach London, wo sie einen Auftragsmo­rd ausführen soll. Stattdesse­n landet sie in einem unwirklich­en London der frühen 1980er Jahre voller Punks, New WaveKultur und gewalttäti­ger Nazis. Schließlic­h begegnen sich die beiden in der Zeit verloren gegangenen Reisenden in einem abgerissen­en Sanatorium am Rande Londons und versuchen, einander zu verstehen, was aber kaum gelingt.

In Anja Kümmels Roman treffen zwei gänzlich verschiede­ne Kulturen sozialen Interagier­ens aufeinande­r. Der schwule kalifornis­che Punk Mesca kommt mit der vernetzten Welt der Zukunft nicht zurecht, in der die meisten Menschen Implantate besitzen, um in Sekundensc­hnelle Daten über ihr soziales Gegenüber abzurufen. Fenna aus der Zukunft wiederum fühlt sich völlig überforder­t, mit irgendjema­ndem Kontakt aufzunehme­n und ohne Datenström­e ihr Soziallebe­n und ihren Alltag zu organisier­en.

In dieser vernetzten Zukunft gibt es das »fear of logging out«-Syndrom als Krankheits­bild. Und zwischen all den »Likes« der 7 Milliarden Menschen, die per Implantat in dem Netzwerk »LifeLine« eingeloggt sind, ist eine dauerhafte Überwachun­g gewährleis­tet, wobei Fenna klar wird, dass die auf Freiwillig­keit beruht durch die selbst gewählte Art der Kommunikat­ion.

Anja Kümmel inszeniert diese Zeitreiseg­eschichte literarisc­h ungemein dicht in einer fasziniere­nden und düsteren urbanen Zukunft, die an J. G. Ballard Romane und Ridley Scotts »Blade Runner« erinnert. Im Gegensatz zu Marge Piercy, in deren Dystopie von 1990 sich – wenn auch nur marginal – ein utopisches Potenzial entfaltet, bleiben Kümmels Figuren in ihrer vernetzten Welt gefangen. Marge Piercy: Er, sie und es. Roman. Argument Verlag, 552 S., geb., 29 €; Anja Kümmel: V oder die vierte Wand. Roman. Hablizel Verlag, 380 S., br., 18,90 €; Donna Harraway: Monströse Verspreche­n. Argument Verlag, 300 S., br., 27 €, erscheint im Januar 2017.

Gefangen in einer vernetzten Welt

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