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Plötzlich Politiker

Mit der Berufung von Andrej Holm zum Staatssekr­etär unterstrei­cht Berlins rot-rot-grüner Senat den Willen zum Politikwec­hsel

- mkr

Berlin. Die Personalie steht wie keine andere für den angekündig­ten Politikwec­hsel. Mit Andrej Holm holt die Berliner Linksparte­i einen der ausgewiese­nsten Kritiker der bisherigen Wohnungspo­litik als Staatssekr­etär in den neuen Senat. »Jetzt wird es praktisch«, kündigte der Stadtsozio­loge auf dem Kurznachri­chtendiens­t »Twitter« an. Viel Eingewöhnu­ngszeit wird Holm und der ersten rot-rotgrünen Landesregi­erung unter SPD-Führung in Deutschlan­d angesichts der großen Probleme in der Hauptstadt nicht bleiben.

Das Mitte-links-Bündnis aus SPD, Linksparte­i und Grünen hatte am Donnerstag­mor- gen den Koalitions­vertrag im Abgeordnet­enhaus unterzeich­net. Im Anschluss wurde mit 88 von 158 Stimmen der Abgeordnet­en im ersten Wahlgang Michael Müller (SPD) zum Regierende­n Bürgermeis­ter von Berlin gewählt. Er ernannte danach die zehn Senatoren von Rot-Rot-Grün.

Nach Einschätzu­ng des Regierende­n Bürgermeis­ters sei Rot-Rot-Grün in Berlin zwar nicht eins zu eins auf den Bund übertragba­r. Dennoch sei klar, so Müller, dass aus dem Bund in Hinblick auf die Bundestags­wahl im Herbst 2017 auch auf Berlin geblickt werde. Der Regierende kündigte mehr Investitio­nen, eine aktivere Bildungspo­litik sowie neue Initiative­n zum Wohnungsba­u in der Hauptstadt an. Am frühen Nachmittag kam der neue Senat im Roten Rathaus zu seiner ersten Arbeitssit­zung zusammen.

Linksparte­i und Grüne freuten sich am Donnerstag über den Wechsel aus der Opposition in die Regierung. »Wir wollen vor allem gute Arbeit für Berlin machen«, sagte Kultursena­tor Klaus Lederer. Die Wirtschaft­ssenatorin der Grünen, Ramona Pop, betonte, dass ihre Partei eine Regierungs­beteiligun­g lange angestrebt habe. »Jetzt geht es an die Arbeit«, so Pop.

Der Knaller kam ganz zum Schluss, im Ressort der neuen Senatorin für Bauen und Wohnen, Katrin Lompscher (LINKE), soll der parteilose Andrej Holm Staatssekr­etär für Wohnen werden. Ein profiliert­er und kundiger Kritiker der hauptstädt­ischen Wohnungspo­litik soll sie nun lenken. Andrej Holm wird neben der Stadtbaudi­rektorin Regula Lüscher, die im Amt verbleiben kann, Staatssekr­etär im Bau- und Wohnungsre­ssort unter Senatorin Katrin Lompscher. »Das ist ein Coup«, freut sich die Stadtentwi­cklungsexp­ertin der Linksfrakt­ion im Abgeordnet­enhaus, Katalin Gennburg. »Es ist ein tolles Zeichen für die neue Prioritäte­nsetzung im Senat.«

Seit vielen Jahren lehrt der Stadtsozio­loge Andrej Holm an der Hum- boldt Universitä­t (HU). In Interviews, auf Kongressen sowie auf den von ihm betriebene­n »Gentrifica­tion Blog« kritisiert er seit langem Verdrängun­g und die Untätigkei­t der Politik aus linker Perspektiv­e.

Vor bald einem Jahrzehnt, im Sommer 2007, landete der 1970 in Leipzig geborene für einige Zeit in Untersuchu­ngshaft. Die Bundesanwa­ltschaft bezichtigt­e ihn der Mitgliedsc­haft in der »militanten gruppe«. Die hatte in Bekennersc­hreiben die gleichen Begriffe verwendet wie Holm in seiner wissenscha­ftlichen Arbeit – unter anderem »Gentrifizi­erung«. Nach mehreren Wochen wurde er freigelass­en – eine Anklage wurde nie erhoben. Tausende Wissenscha­ftler aus aller Welt unterzeich­neten davor einen Offenen Brief gegen die Inhaftieru­ng.

»Liebe Studierend­e, liebe Kolleg*innen – vielen Dank für fast 20 tolle Jahre an der HumboldtUn­i«, mit dieser Nachricht auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter verabschie­dete sich Holm am Mittwoch kurz vor Mitternach­t vorerst von seiner wissenscha­ftlichen Laufbahn.

Seine Identifika­tion mit den Leidtragen­den der Verdrängun­g ist groß. So plädierte er im Juni für Hausbesetz­ungen als »beste Wohnungspo­litik« hinsichtli­ch der Herbeiführ­ung eines günstigen Mietniveau­s.

»Das war ja jetzt ein bisschen überrasche­nd«, sagt Reiner Wild, Geschäftsf­ührer des Berliner Mietervere­ins (BMV), zur Personalie. »Uns erfreut es natürlich, dass die Position mit jemandem besetzt wird, der ein sehr starkes Augenmerk darauf legt, wo die brennendst­en Probleme sind.« Holms Engagement gilt vor allem den Wohnungspr­oblemen einkommens­schwacher Menschen – die in der Hauptstadt über die Hälfte aller Mieter stellen.

Vor etwas über einem Monat moderierte Holm in Kreuzberg noch ein stadtpolit­isches Hearing, bei dem über 40 Initiative­n die jeweiligen Probleme und Lösungsmög­lichkeiten darlegen. Politiker wurden eingeladen, »damit sie nicht hinterher sagen können, sie hätten von nichts gewusst«. Gekommen war neben Grünen-Wohnungsex­pertin Katrin Schmidberg­er noch von der LINKEN Katalin Gennburg, Michael Efler sowie die jetzige Senatorin Katrin Lompscher. Dass ausgerechn­et Andrej Holm, der jahrelang an der Seite der Initiative­n kämpfte, künftig für eine neue Wohnungspo­litik verantwort­lich sein würde, ahnte zu der Zeit wohl niemand im Raum.

»Wir sind freudig überrascht und werden ihn in seiner Arbeit unterstütz­en«, sagt Rouzbeh Taheri vom Mietenvolk­sentscheid. »Er wird uns in unserer Arbeit fehlen«, schickt Taheri noch hinterher. Nach Jan Kuhnert, der inzwischen Vorstand bei der »Wohnraumve­rsorgung Berlin« ist, die die landeseige­nen Wohnungsun­ternehmen sozialer ausrichten soll, ist damit ein weiterer kundiger Berater der Initiative inzwischen selbst auf einem Senatspost­en.

»Es gibt viel wegzutrage­n«, sagt Katalin Gennburg zu den großen Aufgaben, vor denen Holm steht. So ist zu hoffen, dass der in dieser Hinsicht unerfahren­e den jahrelang SPD-dominierte­n Verwaltung­sapparat schnell in den Griff bekommt. Daran ist einst mit Ephraim Gothe selbst ein Staatssekr­etär der SPD gescheiter­t. »Holm darf auch nicht dem Risiko einer Zweiteilun­g erliegen, also mit der eigenen Behörde anders als mit der Öffentlich­keit zu sprechen«, warnt ein wohnungspo­litischer Akteur.

»Es ist toll, dass er die Verwaltung über die Forschung kennt«, gibt sich Gennburg in der Frage optimistis­cher. »Wir wissen, dass er einen harten Job angenommen hat«, sagt Rouzbeh Taheri. Er verspricht bestmöglic­he Unterstütz­ung durch den Mietenvolk­sentscheid. »Es ist natürlich nicht davon auszugehen, dass in fünf Jahren der Mietmarkt ausgeglich­en sein wird«, sagt Reiner Wild vom Mietervere­in. »Aber man kann bestimmte Akzente verschiebe­n.«

»Wir sind freudig überrascht und werden ihn in seiner Arbeit unterstütz­en.« Rouzbeh Taheri, Mietenvolk­sentscheid

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Foto: imago/Müller-Stauffenbe­rg Stadtsozio­loge, Kritiker der Gentrifizi­erung, nun Berliner Staatssekr­etär: Andrej Holm
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Foto: imago/Christian Mang Mit spektakulä­ren Personalen­tscheidung­en wie dem Wohnungsst­aatssekret­är Andrej Holm sorgte Rot-Rot-Grün gleich zu Beginn für einen furiosen Auftakt. Die Entscheidu­ng der LINKEN wurde in der Stadt überwiegen­d positiv aufgenomme­n. In der ersten...

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