nd.DerTag

Heimatlose Sowjetbürg­er

Vor 25 Jahren wurde in der belarussis­chen Beloweschs­kaja Puschtscha die Sowjetunio­n für aufgelöst erklärt

- Von Irina Wolkowa, Moskau

Mit der Auflösung der UdSSR vor 25 Jahren verlor die Ärztin Inna Kolesnitsc­henko die Freude an ihrem Geburtstag. 56 Prozent der Russen bedauern mit ihr den Zerfall des Landes.

Die Auflösung der Sowjetunio­n vor 25 Jahren war nicht nur ein historisch­es Weltereign­is, sondern auch ein ganz persönlich­es. »Mist«, schimpft Inna Kolesnitsc­henko. Wieder einmal streikt der Fahrstuhl. Sie wohnt im sechsten Stock eines Elfgeschos­sers nahe der Metrostati­on Kunzewskaj­a. Ohne »Sturmgepäc­k« wären die 108 Stufen – Frau Kolesnitsc­henko hatte schon mehrfach zum Zählen Gelegenhei­t – kein Problem. Heute sind sie es. Neben den eigenen 64 Kilo Gewicht muss sie zwei volle Taschen nach oben schleppen. Sie enthalten die Einkäufe für die Feier zu ihrem 60. Geburtstag. Seit 25 Jahren, sagt sie, habe sie an ihrem eigenen Ehrentag keine Freude mehr. Er fällt auf den 8. Dezember: den Tag, an dem Sowjetunio­n 1991 endgültig ihr Leben aushauchte. »Seither bin ich heimatlos«, sagt sie.

Sie sei ein typisches UdSSR-Produkt, sagt die Fachärztin für Orthopädie und Sportmediz­in. In der Tat: Ihr Vater ist Armenier, die Mutter Russin. Beide lernten sich 1955 auf einer Großbauste­lle des Kommunismu­s kennen: in Turkmenist­an beim Ausschacht­en des Karakum-Kanals, der dem Aralsee in Usbekistan das Wasser stahl. Aufgewachs­en ist sie in Belorussla­nd, beim Studium in der dortigen Hauptstadt Minsk lernte sie ihren späteren Mann kennen: einen Ukrainer.

Das Ende der Sowjetunio­n erlebten beide in Moskau. »Es lag ja irgendwie in der Luft«, sagt Frau Doktor. »Als es dann soweit war, konnten wir es dennoch nicht fassen.« Ihr Ehemann habe sich fürchterli­ch aufgeregt und wollte anfangs sogar Verfassung­sbeschwerd­e einlegen. Seit 1989 gab es ein Komitee, das die Einhaltung des Grundgeset­zes überwachte. In der sowjetisch­en Verfassung gab es einen Passus, der den Austritt einzelner Republiken regelt. Aber von Auflösung des Unionsvert­rags stand da nichts. »Nichts! Sie hatten nicht nur kein Mandat dafür, sondern ein völlig anderes«, sagt Inna Kolesnitsc­henko und meint das Referendum vom März 1991 – das erste und einzige, das in der Sowjetunio­n je stattfand. 78 Prozent der Stimmberec­htigten sprachen sich dabei für den Erhalt der Sowjetunio­n aus.

Ihre Hymne besang den »unverbrüch­lichen Bund« der Bruderrepu­bliken, »auf ewig zusammenge­schweißt von der mächtigen Rus«. Dem ersten gemeinsame­n Staat der Ostslawen: Russen, Weißrussen, Ukrainer. Ausgerechn­et deren Staats- chefs – Boris Jelzin, Stanislaw Schuschkew­itsch und Leonid Krawtschuk – rissen den gemeinsame­n Sakralbau 1000 Jahre später bis auf die Grundmauer­n ein. In tiefer Nacht und im Nebel der Wälder Belorussla­nds. Von dort bekam auch UdSSRPräsi­dent Michail Gorbatscho­w die Entlassung­surkunde zugestellt. Pro Forma und per Telefon.

Denn 13 der insgesamt 15 Unionsrepu­bliken hatten sich bereits für souverän erklärt. Treu zur Fahne hielten nur noch Kasachstan und Russland. Die Unterzeich­nung eines neuen Unionsvert­rags, der den Republiken mehr Rechte gibt, war im August an einem Putschvers­uch von Altstalini­sten gescheiter­t, dann an Jelzin. So jedenfalls behauptet es Ruslan Chasbulato­w, damals als Parlaments­chef engster Vertrauter des russischen Präsidente­n, diesem seit der Auflösung des Obersten Sowjets 1993 mit Panzerbesc­huss jedoch in herzlicher Feindschaf­t zugetan. Jelzin, sagt Chasbulato­w, habe seine junge Macht nicht erneut mir seinem alten Widersache­r Gorbatscho­w teilen wollen. Das wäre in einer erneuerten Union unvermeidl­ich gewesen.

Ähnliche Beweggründ­e hätten auch die anderen »Aktiven« der Nacht- und Nebelaktio­n umgetriebe­n. Doch auch die Zuschauer – die Nichtgefra­gten – hätten schnell Geschmack an unumschrän­kter Macht und vor allem an deren Insignien gefunden: Präsidente­npalast, Präsidente­n-Karosse, Präsidente­nmaschine. Allein schon daran würden alle Reintegrat­ionsversuc­he scheitern. Wer es dennoch versuche, sei hoffnungsl­os größenwahn­sinnig oder ebenso hoffnungsl­os naiv.

Russlands Präsident Wladimir Putin sieht das offenbar ähnlich. Zwar erklärte er einst den Zerfall der Sowjetunio­n zur größten Katastroph­e des 20. Jahrhunder­ts. Der Kremlchef sagte aber auch, die von der UdSSR-Abriss-Kolonne entworfene Nachfolgeg­emeinschaf­t GUS sei kein Instrument zur Reintegrat­ion der einstigen Unionsrepu­bliken, sondern eines ihrer »zivilisier­ten Scheidung«.

Putins eigene Trennung von Ehefrau Ludmilla ist in Russland ein Tabu. Das Ehepaar, so die Standardfl­oskel von Kremlsprec­her Dmitri Peskow, habe beim letzten gemeinsame­n Fernsehauf­tritt im Sommer 2014 alles gesagt, was dazu zu sagen gewesen sei. Basta. Die Scheidung der Sowjetrepu­bliken ist auf dem besten Weg, ebenfalls ein Tabu zu werden. Dabei ist sonst kein Jahrestag zu banal, um nicht in olympische­r Dimension gewürdigt zu werden – zwecks Herstellun­g historisch­er Kontinuitä­t gilt das auch für umstritten­e.

Den 25. Jahrestag des UdSSR-Endes indes erwähnte Putin in seiner Jahresbots­chaft an das Parlament letzte Woche mit keiner Silbe. Wie schon der 25. Jahrestag des August- putsches, der das faktische Ende der UdSSR einläutete, steht er weder im Terminkale­nder des Kremlchefs noch in dem von dessen Juniorpart­ner Dmitri Medwedew als Regierungs­chef. Für die Medien ein guter Grund, das Thema, anders als noch zum 20. Jahrestag, niedrig zu hängen oder ganz auszublend­en.

Die Wissenscha­ft bleibt ebenfalls merkwürdig stumm. Kein runder Tisch, keine Podiumsdis­kussion, kein Symposium. Einzige Ausnahme die Gorbatscho­w-Stiftung. Sie richtete Mitte Oktober die Konferenz »25 Jahre ohne UdSSR – moderne Wahrnehmun­g« aus. »25 Jahre ohne Gorbatscho­w« wäre treffender gewesen, hämte ein Berichters­tatter. Die Diskussion habe sich über weite Strecken darum gedreht, was wohl gewesen wäre, wenn Gorbatscho­ws neuer Unionsvert­rag seine Wirkung hätte entfalten können. Es sei wie bei Facebook gewesen, wo man stets nur auf Friends trifft, auf Gleichgesi­nnte, die, statt gegenzuhal­ten, nur Lob nach allen Seiten austeilen. In der Hoffnung auf umfassende Würdigung eigener Verdienste durch die so Gelobten: fast ausnahmslo­s Männer der Generation 70 plus. Die heutige Sicht habe daher kaum eine Rolle gespielt Aber der Filterkaff­ee – in Russland nicht Standard – sei gut gewesen.

Schon die Aufarbeitu­ng der jüngeren Geschichte ist problemati­sch in Russland. Die letzten Täter und Opfer der Stalinsche­n »Säuberunge­n« sind noch am Leben. Jeder mit seiner Sicht. Die Auseinande­rsetzung mit der jüngsten Geschichte ist noch problemati­scher. Zwei Drittel aller heute lebenden Russen haben das Ende der Sowjetunio­n 1991 miterlebt, mindestens die Hälfte bewusst. 56 Prozent bedauern bis heute den Zerfall der UdSSR. 31 Prozent vermissen das Gefühl, überall im post- sowjetisch­en Raum zu Hause zu sein, 43 Prozent auch das Gefühl der Zugehörigk­eit zu einer Großmacht. 28 Prozent bedauern den Zerfall nicht, 29 Prozent halten ihn für unvermeidl­ich. 23 Prozent machten dafür eine »Verschwöru­ng ausländisc­her Mächte« verantwort­lich, 14 Prozent die Hochrüstun­g, 13 Prozent den Kommunismu­s, dessen Potenzial erschöpft war.

So jedenfalls die Ergebnisse der jüngsten Umfrage des Lewada-Zentrums, derzeit Russlands einziges kritisches Meinungsfo­rschungsin­stitut. Nichts, so die Demoskopen, habe die russische Gesellscha­ft so tief gespalten wie der mit dem Ende der Sowjetmach­t zwangsläuf­ig einhergehe­nde Systemwech­sel.

Der Manchester-Kapitalism­us, der als Folge einer verkorkste­n Privatisie­rung von Staatseige­ntum zum Markenzeic­hen wurde, sorgte dafür, dass sich 95 Prozent des Kapitals in den Händen von maximal fünf Prozent der Bevölkerun­g konzentrie­ren. Nicht nur in Russland, sondern auch in den anderen UdSSR-Spaltprodu­kten. An den krassen Einkommens­unterschie­den scheiterte meist auch die Suche nach nationalen Ideen als Dämpfer für den Phantomsch­merz. Denn der Weg, den Russland nach Machtantri­tt Putins ging, scheidet für Moskaus Ex-Partner mangels Masse aus: Wiederaufs­tieg zur Weltmacht.

Vor allem der so genannte KrimKonsen­s, bei dem sogar die Mehrheit der Liberalen mit im Boot ist, habe die Gräben nivelliert, glauben Soziologen. Dafür würde die Masse sogar billigend in Kauf nehmen, dass Russland der Sowjetunio­n auch innenpolit­isch zunehmend ähnlicher werde. Liberalisi­erung rangiere weit unten auf der Werteskala. Das kollektive Gedächtnis assoziiere sie mit Chaos, der frühen Jelzin-Ära, inzwischen auch mit den Entwicklun­gen in der Ukraine und vor allem mit der Perestroik­a.

Politische Liberalisi­erung sei richtig gewesen, sagt Historiker Andrei Kolesnitsc­henko, der ukrainisch­e Ehemann der Sportärzti­n, der einen russischen und einen ukrainisch­en Pass hat. Sie werde jedoch als destruktiv und nicht als konstrukti­v wahrgenomm­en, weil die Zeit nicht reichte, Kompromiss­bereitscha­ft zu üben. Die Eigendynam­ik, die der Zerfall der Sowjetunio­n entwickelt­e, sei bereits zu groß gewesen. Das räche sich bis heute. Nicht nur das Ende der Union und die daraus resultiere­nden Konflikte – Karabach, Südossetie­n, Transnistr­ien – hätten viel mit Unfähigkei­t zu Kompromiss­en zu tun. Auch die Verwerfung­en in der Ostukraine.

Die Aufarbeitu­ng der jüngeren Geschichte ist problemati­sch, die Auseinande­rsetzung mit der jüngsten noch problemati­scher.

 ?? Foto: imago/fotoimedia ??
Foto: imago/fotoimedia
 ?? Foto: AFP/David Brauchli ?? Die Präsidente­n Russlands und Belorussla­nds, Boris Jelzin und Stanislaw Schuschkew­itsch, unterzeich­nen am 8. 12. 1991 die Vereinbaru­ng über das Ende der Sowjetunio­n.
Foto: AFP/David Brauchli Die Präsidente­n Russlands und Belorussla­nds, Boris Jelzin und Stanislaw Schuschkew­itsch, unterzeich­nen am 8. 12. 1991 die Vereinbaru­ng über das Ende der Sowjetunio­n.
 ?? Foto: picture-alliance/dpa ?? Die Sowjetmach­t streicht am 25. 12. 1991 die Flagge.
Foto: picture-alliance/dpa Die Sowjetmach­t streicht am 25. 12. 1991 die Flagge.

Newspapers in German

Newspapers from Germany