Vergessene Versuchskinder
Aufarbeitung von Medikamententests an Heimkindern harrt der Realisierung
Einstige Heimkinder warten auf Aufarbeitung von Medikamententests.
Die Studie einer Pharmazeutin legt nahe, dass zwischen den 50er und 70er Jahren mindestens 50 Medikamentenstudien an Heimkindern durchgeführt wurden. Kinder in den Heimen der Bundesrepublik mussten in der Nachkriegszeit Furchtbares über sich ergehen lassen. Sexueller Missbrauch, Schläge, seelische Gewalt. Um diese Vorfälle aufzuarbeiten, wurde auf Beschluss des Bundestags von 2009 der Runde Tisch »Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren« ins Leben gerufen. Ein Thema aber blieb von diesem weitgehend unbehandelt. In dem Abschlussbericht des Runden Tisches heißt es in wenigen Absätzen, ehemalige Heimkinder hätten berichtetet, dass sie im Heim Psychopharmaka einnehmen mussten. Die Betroffenen hätten darauf gedrängt, diese Problematik im Rahmen des Rundes Tisches zu behandeln. »Aus den Berichten der ehemaligen Heimkinder geht meist nicht hervor, welche Präparate mit welchem Ziel eingesetzt wurden und ob die Gabe individuell notwendig oder gar angemessen war.« In Akten und in wissenschaftlichen Arbeiten ließen sich bis auf eine Ausnahme keine konkreten Hinweise finden, heißt es im Abschlussbericht.
Die Pharmazeutin Sylvia Wagner hat ganz andere Erfahrungen gemacht. Sie hat Archive und Fachzeitschriften aus den betreffenden Jahren durchforscht und kommt zu dem Schluss: Mindestens 50 Medikamententests an Heimkindern lassen sich in der Bundesrepublik von den 50er bis 70er Jahren nachweisen. Sie geht jedoch davon aus, dass das tatsächliche Ausmaß noch umfangreicher ist.
Nach dem Erscheinen ihrer Ergebnisse kündigten auch einige Landesministerien Aufarbeitung an. In Nordrhein-Westfalen fand Ende November ein Treffen mit vier in der Studie erwähnten Einrichtungen und Vertretern verschiedener Ministerien statt. Aus dem Gesundheitsministerium heißt es: »Alle Beteiligten waren sich darüber einig, dass eine umfassende fundierte wissenschaftlich-historische Aufarbeitung erforderlich ist.« Diese werde nach ersten Einschätzungen mindestens einen Zeitraum von zwei Jahren einnehmen. Das Land werde sich dabei vor allem mit den historischen und rechtlichen Fragen befassen, die Träger mit den konkreten Ereignissen. Eine schnelle Aufarbeitung ist für die Opfer, die gegenüber dem Runden Tisch immer wieder beklagten, ihnen würde nicht zugehört, also nicht zu erwarten.
Auch in Schleswig-Holstein hatte Sozialsenatorin Kristin Alheit (SPD) wissenschaftliche Aufklärung versprochen. Aus der Studie von Wagner geht hervor, dass im ehemaligen Krankenhaus Schleswig Neuroleptika an Kindern getestet wurden. Ende vergangener Woche unterzeichneten Alheit sowie Bundessozialministerin Andrea Nahles und Kirchenvertreter eine Vereinbarung über die Stiftung »Anerkennung und Hilfe«. Insbesondere Behinderte, die unter restriktiven Erziehungsmethoden in Heimen gelitten haben, können darüber Entschädigung erhalten – einmalig 9000 Euro sowie eine zusätzliche Rentenersatzleistung von bis zu 5000 Euro sind möglich. Aber auch Opfer von Medikamentenests sollen nach Angaben des Sozialministeriums davon profitieren. Zudem soll 2017 eine Ausschreibung für bundesweite wissenschaftliche Aufarbeitung starten. »Ich freue mich, dass es gelungen ist, diese Einigung im Sinne der Betroffenen zu erzielen. Mir ist wichtig, dass wir sie in den weiteren Prozess eng einbeziehen und dabei neben dem Thema Gewalt und Missbrauch auch das Thema Medikamentenversuche beleuchten«, so Alheit.
Der sozialpolitische Sprecher der Piratenfraktion, Wolfgang Dudda, sieht das ganz anders. Die Landesregierung tue mitnichten genug für Aufarbeitung. »Man versucht sich freizukaufen«, so Dudda. Es werde überhaupt nicht ernsthaft versucht, Betroffene und Verantwortliche zu finden. Auch die ehemalige Landespastorin Petra Thobaben hatte öffentlich erzählt, sie habe kein großes Interesse von Seiten der Landesregierung wahrgenommen. Sie wurde von der Sozialministerin beauftragt, Missstände in Kinder- und Jugendpsychiatrien aufzuarbeiten. Schon Anfang des Jahres hatte Thobaben dem Sozialministerium einen Bericht zukommen lassen in dem sie erklärt, es sei sinnvoll, die Vorkommnisse im Landeskrankenhaus wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Auch in ihrem Bericht ist davon die Rede, dass die Kinder im Landeskrankenhaus mit »Neuroleptika zugedröhnt« wurden.
Franz Wagle, ein Betroffener, der im Heim in Schleswig-Holstein aufwuchs und mehrmals im früheren Landeskrankenhaus Schleswig war, erklärte im NDR, er sei von den Behörden sehr enttäuscht. Die würden auf seine Nachfragen nicht einmal reagieren. Er erinnert sich an Pillen und Säfte, die er als Kind bekam und, dass er nach der Einnahme »nicht mehr Herr seiner Sinne« gewesen sei.
Sylvia Wagner hatte in ihrer Studie herausgefunden, dass an Heimkindern in Westdeutschland von den 50er bis 70er Jahren Psychopharmaka sowie Impfstoffe und Sexualhemmer getestet wurden.
Im Zuge einer Impfaktion in Westberlin wurden die Tests an Säuglingen laut Wagner auch mit dem Wissen öffentlicher Behörden durchgeführt. In einigen Publikationen werde zudem deutlich, warum sich Heime offenbar für bestimmte Testreihen eigneten. So heißt es in der »Medizinischen Wochenzeitschrift« von 1963 zu Polio-Impfungen: »Die Einschleppungsgefahr von ›Wild‹-Viren durch Besucher, Neuankömmlinge oder Pflegepersonal war nach Art des Heimes auf ein Minimum begrenzt.« Wagner vermutet deshalb, dass es neben der Gefahr, der die Säuglinge durch die Impfstoffe ausgesetzt waren, auch zu Isolationen kam.
In Publikationen über die Verabreichung von Psychopharmaka ist Wagner zudem auf dokumentierte Wirkungen gestoßen. Bei einem Versuch mit dem Neurolepticum Decentan im Essener Franz-Sales-Haus ist von »plötzlichen Schreikrämpfen«, »Bewegungsarmut« und »psychisch starker Veränderung« die Rede.
Ralf Aust, der als Kind im Essener Franz Sales Stift lebte, erinnert sich: »Nach dem Mittagessen mussten wir uns hintereinander aufstellen, die Hand aufhalten und bekamen eine Tablette.« Mit dem Kopf auf den verschränkten Armen auf dem Tisch seien sie dann eingeschlafen.
Da in keiner der von Wagner analysierten Fachzeitschriften von einer Zustimmung durch Kinder oder Eltern die Rede ist, glaubt die Pharmazeutin, dass diese nie eingeholt wurden. Es sei erstaunlich, erklärt sie, wie offen in den Zeitschriften über die Einbeziehung der Kinder als Versuchspersonen berichtet wird, ohne explizit eine Zustimmung der Eltern oder gesetzlichen Vertreter zu erwähnen.
Für Pädagogik-Professor Christian Schrapper zeigen sich in den Medikamtenversuchen die Auswirkungen der Nazi-Zeit. In den »Fürsorgeanstalten« der 50er und 60er Jahre habe man den Geist nationalsozialistisch geprägter Vorstellungen über Minderwertigkeit wiedergefunden. Daraus ergebe sich das Verständnis von Heimkindern als »Menschenmaterial, was für medizinische Versuche genutzt werden kann«. Auch Wagner zeigt an verschiedenen Beispielen auf, dass damals involvierte Personen – Ärzte in den Heimen ebenso wie Wissenschaftler – während der NS-Zeit hohe Positionen innehatten.
Dass Verantwortliche für die Medikamententests heute vermutlich nur schwer strafrechtlich belangt werden könnten – zum einen, weil die damalige Rechtslage anders war, zum anderen, weil die Taten höchstwahrscheinlich verjährt wären –, ist für Dudda kein Grund, sie unbehelligt zu lassen. Er hatte im Landtag gefordert, weit höhere Entschädigungen an die Opfer zu zahlen und die damals involvierten Pharmakonzerne daran zu beteiligen. Sozialministerin Alheit habe diese Forderung mit Verweis auf die fehlende juristische Belastbarkeit jedoch nicht aufgenommen, so Dudda. Für ihn ist dennoch klar: Die wissenschaftliche Aufarbeitung muss genau diese Fragen stellen: Wer ist verantwortlich, welche Unternehmen und Personen haben von den Tests profitiert? »Noch eine abstrakte Studie brauchen wir nicht«.
»Nach dem Mittagessen mussten wir uns hintereinander aufstellen, die Hand aufhalten und bekamen eine Tablette.« Ehemaliges Heimkind