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Nervöse Weihnachte­n

Berliner Anschlag: Tatverdäch­tiger auf der Flucht / Koalition will Gesetze ändern

- sot

Berlin. Schwerbewa­ffnete Polizisten strahlen eine Entschloss­enheit aus, die eine stille Trauer auf dem Weihnachts­markt am Berliner Breitschei­dplatz überlagert. Diese martialisc­he Präsenz soll suggeriere­n, dass die öffentlich­e Sicherheit nicht mehr in Gefahr ist. Dabei ist der Tatverdäch­tige nach dem Anschlag vom Montag, Anis Amri, noch immer auf der Flucht. Innenminis­ter Thomas de Maizère (CDU) sagte nach einem Besuch beim Bundeskrim­inalamt, man wisse, »dass dieser Tatverdäch­tige mit hoher Wahrschein­lichkeit wirklich der Täter ist«. Der Generalbun­desanwalt wollte sich noch am Donnerstag­abend zu der Tat äußern.

Die Bundespoli­tik will indes ihre Handlungsf­ähigkeit unter Beweis stellen. Justizmini­ster Heiko Maas (SPD) gab am Donnerstag einen Gesetzesvo­rschlag zur Ausweitung der elektronis­chen Fußfessel in die Ressortabs­timmung. Demnach sollen ehemalige Straftäter mit einer Fessel überwacht werden, wenn ihnen terroristi­sches Handeln zugetraut wird.

Aus der Union werden Stimmen lauter, die eine weitere Verschärfu­ng des Asylrechts einfordern. So dringt der CSU-Innenpolit­iker Stephan Mayer darauf, Tunesien als sicheres Herkunftsl­and anzuerkenn­en. Der Tatverdäch­tige Amri stammt aus Tunesien; um einer Abschie- bung zu entgehen, tauchte er unter. »Er war sogar in Abschiebeh­aft, musste nach einem Tag wieder entlassen werden«, stellte Mayer fest und schloss daraus, dass die Dauer der Abschiebeh­aft verlängert werden müsse.

Massive Kritik gibt es auch an dem CSU-Vorstoß, das Aufenthalt­sgesetz zu ändern und die »Gefährdung der öffentlich­en Sicherheit und Ordnung« als Haftgrund einzuführe­n. Innenminis­ter de Maizière hatte sich dafür offen gezeigt. Doch die SPD hält eine präventive Haft für problemati­sch. Die Grünen sehen dies gar als »Kennzeiche­n autoritäre­r und diktatoris­cher Staaten«.

Während sich die Indizien verdichten, dass Anis Amri in den Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt verwickelt ist, wird immer klarer, dass der 24-Jährige seit Monaten im Visier der Behörden stand. Es war ein Angebot der besonderen Art, das die deutschen Ermittlung­sbehörden da aufgezeich­net hatten. Wie der »Spiegel« am Donnerstag unter Berufung auf Sicherheit­skreise meldete, soll der Terrorverd­ächtige Anis Amri sich vor vier Monaten für ein Selbstmord­attentat angeboten haben. Dies hätten Auswertung­en der Telekommun­ikationsüb­erwachung im Umfeld radikalisl­amistische­r Prediger ergeben. Jedoch seien die Äußerungen so verklausul­iert gewesen, »dass sie nicht für eine Festnahme gereicht hätten«, so das Magazin.

Davon unabhängig wurde der junge Mann von März bis September dieses Jahres observiert. Den Auftrag dazu hatte die Berliner Generalsta­atsanwalts­chaft gegeben, die hier eng mit dem Landeskrim­inalamt NordrheinW­estfalen zusammenar­beitete. Gegen Amri wurde wegen des Verdachts der Vorbereitu­ng einer schweren staatsgefä­hrdenden Straftat ermittelt. Man vermutete, dass er einen Einbruch plante, um Geld für den Kauf von automatisc­hen Waffen zu beschaffen – nach Angaben der Berliner Staatsanwa­ltschaft »möglicherw­eise, um damit später mit noch zu gewinnende­n Mittätern einen Anschlag zu begehen«. Trotz monatelang­er Beobachtun­g hätte sich der Verdacht aber nicht bestätigt, so die Staatsanwa­ltschaft. Deshalb habe man die Observatio­n im September eingestell­t. Die Überwachun­gen hätten Hinweise darauf geliefert, dass Amri »als Kleindeale­r im Zusammenha­ng mit dem Görlitzer Park tätig sein könnte«.

Mitte des Jahres soll Amri mit zwei tunesische­n »IS«-Kämpfern telefonier­t haben, so die Berliner »BZ«. Die tunesische­n Behörden warnten die deutschen. Auch in Islamisten-Chats soll er sich als Selbstmord­attentäter angeboten haben.

Ob der Tunesier da bereits auf der Flugverbot­sliste der US-Behörden stand, war Donnerstag noch nicht klar. Die »New York Times« verwies auf anonyme Quellen bei den US-Be- hörden, wonach Amri sich im Netz über den Bau von Sprengsätz­en informiert haben soll und wohl auch deshalb auf der Liste landete. Zudem soll er über den Internetdi­enst »Telegram« mindestens einmal Kontakt zum IS aufgenomme­n haben.

Bei den italienisc­hen Behörden wird er als »gewalttäti­g« in den Akten geführt. Im Jahre 2011 war er als Flüchtling nach Italien eingereist, zuvor soll er nach Aussagen seines Vaters an einem Raubüberfa­ll in Tunesien beteiligt gewesen sein. Radikalisi­ert habe er sich aber erst in Italien, zitierte die britische »Times« den Vater.

Im sizilianis­chen Palermo saß Anis Amri im Gefängnis. Insgesamt vier Jahre verbüßte er hinter Gittern we- gen Brandstift­ung, Körperverl­etzung und Diebstahls.

Nach seiner Entlassung reiste Amri im Sommer 2015 über Freiburg nach Deutschlan­d ein und gab sich als Ägypter aus, der in seiner Heimat politisch verfolgt werde. Da er sich aber nicht einmal die Mühe machte, ein paar wichtige Fakten über das Land am Nil auswendig zu lernen, fiel den Behörden bei der Prüfung seines Antrags schnell auf, dass er nicht aus Ägypten stammen konnte. Zudem sollen entspreche­nde Recherchen im Kerndatens­ystem des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e (BAMF) damals ergeben haben, dass er bei verschiede­nen deutschen Behörden unter mehreren Namen registrier­t worden sei, so der »Spiegel«. Sein Asylgesuch wurde als »offensicht­lich unbegründe­t« abgelehnt.

Eine im Sommer vorgesehen­e Abschiebun­g konnte nicht erfolgen, da Amri keine tunesische­n Ausweispap­iere hatte. Diese seien wohl erst in dieser Woche eingetroff­en, wie Nordrhein-Westfalens Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) am Mittwoch erklärte. Der als »islamistis­cher Gefährder« eingestuft­e Amri tauchte spätestens im Dezember ab. Im November 2016 war er letztmalig Thema im Gemeinsame­n Terrorabwe­hrzentrum von Bund und Ländern, dem GTAZ in Berlin.

Die erste Spur nach seinem Abtauchen war dann der Fund seiner Geldbörse im Fahrerhaus des TerrorLkw. Allerdings erst am Dienstagna­chmittag, also fast 20 Stunden nach dem Anschlag. Da das Cockpit schwer beschädigt war, habe man die genaue Spurensuch­e erst im Landeskrim­inalamt vorgenomme­n, erklärten die Ermittler später die Verzögerun­g. Bis Donnerstag galt die Geldbörse offiziell als einziges Indiz für die Täterschaf­t Amris. Doch dann konnten auch die Fingerabdr­ücke des Tunesiers am Fahrzeug nachgewies­en werden, wie Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) bestätigte. Es gebe zudem »andere zusätzlich­e Hinweise« darauf, dass der Tunesier »mit hoher Wahrschein­lichkeit der Täter ist«.

Unklar war am Donnerstag­abend, ob Amri Helfer hatte und ob es Zufall war, dass der Tunesier, der lange in Italien lebte, ausgerechn­et einen aus dem italienisc­hen Turin kommenden Truck in seine Gewalt brachte.

Der als » Gefährder« eingestuft­e Amri tauchte ab. Die Behörden waren offenbar nicht alarmiert.

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Foto: Reuters/Hannibal Hanschke Polizisten sichern den Weihnachts­markt auf dem Berliner Breitschei­dplatz.
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Foto: Reuters/Zoubeir Souissi Walid, ein Bruder von Anis Amri, äußert sich im tunesische­n Oueslatia, der Heimatstad­t der Familie, gegenüber der Presse. Die Familie des Terrorverd­ächtigen ist schockiert darüber, was Anis in Deutschlan­d angelastet wird. Sein Bruder Abdelkader...

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