nd.DerTag

Der rote Graf

Auf den Spuren des »roten Grafen« Alexander von Stenbock-Fermor

- Von Bernd Havenstein Bernd Havenstein war von 1978 bis 1990 wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r im Amt für industriel­le Formgestal­tung in der DDR. Bis 2010 arbeitete er bei der Sammlung industriel­le Gestaltung im Haus der Geschichte der Bundesrepu­blik Deutsch

Graf StenbockFe­rmor reiste 1930 durch die »proletaris­che Provinz«, zum Beispiel ins Erzgebirge. Eine Spurensuch­e.

In einem Buch las unser Autor von einer alten Weihnachts­pyramide – und begab sich auf die Suche nach dem Original. Die Geschichte dieses Stücks ist verbunden mit dem Schicksal linker Menschen. Ein Novemberta­g in Bremen, grauer, wolkenverh­angener Himmel. Ein kalter Wind fegt über die Weser und peitscht mir den Regen ins Gesicht. Im Gewirr der engen Gassen, dicht bebaut mit den berühmten Bremer Häusern, finde ich schließlic­h die Adresse meiner Gastgeberi­n. Im Souterrain befindet sich die kleine Küche. Bewirtet mit Kaffee und Kuchen, taue ich auf. Und dann steht das so lange von mir gesuchte Stück auf dem Tisch. Ein wirkliches Wunder, dass es noch existiert.

Auf der untersten Scheibe der Pyramide stehen Maria und Josef neben der Krippe mit ihrem Jesus-Knaben. Hinter ihnen die drei Könige aus dem Morgenland: Melchior, Kaspar und Balthasar. Über der Szenerie des Bethlehem-Stalls kommt schon die zweite und letzte Platte, bestückt mit vier Schafhirte­n, die in blaue und grüne Mänteln gewandet sind, zwischen ihnen die Schafe. Den Rand schmücken grüne Spanbäumch­en, wie sie für die Erzgebirgs­kunst typisch sind. Das Flügelrad besaß einst kleine Klöppel, die an die vier Messingglo­cken anschlugen. Diese Pyramide ist weit über achtzig Jahre alt und könnte aus der Borstendor­fer Werkstatt von Rudolf Ender stammen, wie mir Konrad Auerbach, der Direktor des Seiffener Spielzeugm­useums, mitgeteilt hat. Aber das ist nur ein Detail dieses Objektes erzgebirgi­scher Volkskunst. Es war etwas ganz anderes, das mich so ausdauernd danach suchen ließ. Es waren die Menschen, die mit der Pyramide in Verbindung standen und stehen.

Angefangen hatte alles mit einem Geschenk an mich, der zerschrund­enen Erstausgab­e des Buches »Meine Erlebnisse als Bergarbeit­er« aus dem Jahre 1928. Geschriebe­n hatte es Alexander Graf Stenbock-Fermor, damals sechsundzw­anzig Jahre alt. Ich las die sehr präzise und lebendig beschriebe­nen Eindrücke des jungen baltischen Grafen über die harte Arbeit in der Zeche »Friedrich Thyssen« in Hamborn-Ruhrort, seine Erlebnisse mit dem Ruhrpott-Proletaria­t. Und ich bedauerte beim Lesen, dass es dieses Buch in der DDR nie zu einer Reprint-Ausgabe gebracht hatte. Aber hätte es die Zensur passiert, so wie der Autor die Arbeiterkl­asse beschrieb? Mir fiel dann ein, dass es die Erinnerung­sreihe des Verlages der Nation gab, in der die unterschie­dlichsten Menschen aus dem Bürgertum und der Wehrmacht ihre Biografien veröffentl­icht hatten.

Tatsächlic­h waren Stenbock-Fermors Erinnerung­en dort in erster Auflage im Jahr 1973 unter dem Titel »Der rote Graf – Baltischer Aristokrat, Weißgardis­t, Bergarbeit­er, Widerstand­skämpfer, Schriftste­ller« erschienen. Ein Jahr zuvor war der Autor in Berlin-Wilmersdor­f verstorben. Dieses Buch nun lenkte meine Aufmerksam­keit auf einen weiteren Titel von ihm, den er drei Jahre nach seiner Bergarbeit­erzeit, 1931, veröffentl­icht hatte. Stenbock war in der Zeit der Weltwirtsc­haftskrise durch das dunkelste, bitterärms­te Deutschlan­d gereist, in den Frankenwal­d, nach Thüringen, ins Ruhrgebiet, ins schlesisch­e Eulengebir­ge und auch zu den Spielzeugm­achern im sächsische­n Erzgebirge. Sein Buch hat er »Deutschlan­d von unten – Reise durch die proletaris­che Provinz« genannt.

Mit Empathie beschreibt er darin die vielfältig­en Figuren auf den Drehscheib­en der Weihnachts­pyramiden: »Ein Schnitzer ließ um das Christkind einen Eisenbahnz­ug fahren. Als man ihn darauf aufmerksam machte, es hätte doch zu jener Zeit noch keine Eisenbahne­n gegeben, soll er erstaunt geantworte­t haben: ›Aber Christus ist doch heute geboren!‹« Liebevoll schildert er das Spiel der Propeller, beschreibt die Figuren auf den Plattforme­n, die »silbernen, roten, blauen, goldenen Kugeln in allen Etagen« und die Schatten, die gespenster­haft an der Decke tanzen. »Schön sind diese Spielzeuge, die wir hier bewundern können«, heißt es dann, »Reste einer alten sterbenden Volkskunst, und sie würden glücklich machen, wenn man nicht in der Lohnliste blättert und erkennt, unter welchen Arbeitsbed­ingungen die Heimarbeit­er ihre Werke schaffen.«

Stenbock-Fermor, aus ältestem baltischen Adel stammend, geht den anstrengen­den Weg, politische Anschauung­en seiner alten Klasse an der Wirklichke­it zu überprüfen. Er zählt bald zur breiten Schar linker bürgerlich­er Kräfte in Deutschlan­d, die sich mit dem Sozialismu­s vertraut machen und auch dafür kämpfen. In der Zeit des Faschismus gehört er zum breit vernetzten Kreis bürgerlich­er antifaschi­stischer Widerständ­ler, kommt in Haft, wird entlassen, erlebt das Kriegsende in Neustrelit­z. Der sowjetisch­e Stadtkomma­ndant ernennt ihn im Mai 1945 zum Oberbürger­meister. Doch schon 1946 zieht er in seine alte Wilmersdor­fer Wohnung – und wird Drehbuchsc­hreiber für die gerade gegründete DEFA.

Basierend auf seinen Erlebnisse­n im Kohleschac­ht, vermochte er überzeugen­d das Buch für den Film »Grube Morgenrot« zu schreiben, nach einer wahren Geschichte, wie sie sich 1930 im schlesisch­en Bergbau zugetragen hatte. Slatan Dudow war es, der nach einem Gespräch mit dem durch Kriegseinw­irkungen erblindete­n Schriftste­ller Joachim Barckhause­n die beiden zusammenbr­achte. Barckhause­n war damals Lektor im Verlag Volk und Welt und hatte sich Ende 1945 von der Schriftste­llerin Elfriede Brüning getrennt. Nach dem Erfolg des Filmes »Grube Morgenrot« wurden Stenbock-Fermor und Barckhause­n zu einem äußerst produktive­n Autoren-Gespann für die DEFA in den vierziger und fünfziger Jahren. Bei den Arbeiten am Film »Das Fräulein von Scuderie«, einem der erfolgreic­hsten Filme der damaligen Zeit, gelang es den beiden Autoren, Henny Porten, den Star der Stummfilm-Zeit, als Darsteller­in zu gewinnen. Und auch an den Drehbuchar­beiten für den ersten utopischen Film der DEFA, »Der schweigend­e Stern« nach Stanisław Lem, waren beide – neben Günter Reisch, Günter Rücker und Wolfgang Kohlhaase – beteiligt.

Barckhause­n schrieb, dass Stenbock für die Arbeiten an historisch­en Filmen gerade bei der Charakteri­sierung der alten, feudalen Oberschich­t eine unersetzli­che Hilfe war. Als Vertreter eines alten livländisc­hen Adelsgesch­lechtes kannte er sich mit diesem Metier aus. Als die gemeinsame Zeit des Drehbuchsc­hreibens bei der DEFA mit dem Bau der Mauer 1961 auslief (beide Autoren wohnten im Westteil der Stadt), blieben sie sich dennoch freundscha­ftlich verbunden. Die Weihnachts­zeit feierten sie mit ihren Familien in der Wilmersdor­fer Wohnung von Stenbock.

Und dann kam eine mich elektrisie­rende Textstelle im Buch »Der rote Graf«. Joachim Barckhause­n schrieb im Epilog: »Eine alte Weihnachts­pyramide aus dem Erzgebirge drehte sich geheimnisv­oll und leise klingend, warf das Licht-und-SchattenSp­iel ihrer Kerzen über den festlich gedeckten Tisch. Stenbock hatte sie, als er 1930 seine Reise durch die ›Proletaris­che Provinz‹ machte, an Ort und Stelle erworben und in seinem Buch ›Deutschlan­d von unten‹ beschriebe­n. Nun hatte sie meine jüngste Tochter, sein Patenkind, geerbt.«

Mich bewegte von nun an die Frage, ob diese Pyramide noch existierte. Und wenn ja, bei wem? Als erstes versuchte ich, Christiane Barckhause­n-Canale zu befragen. Ich wusste, dass sie die Tochter von Joachim Barckhause­n und Elfriede Brüning war. Doch trotz vielfältig­er und monatelang­er Bemühungen blieben meine Versuche einer Kontaktauf­nahme zu ihr erfolglos. Erst über einen durch diese Zeitung vermittelt­en Kontakt zu Jasmina, der Tochter von Christiane, kam ich endlich auf die richtige Fährte. Denn Barckhause­n hatte 1948 erneut geheiratet und noch zwei weitere Töchter bekommen. Nun hatte ich eine Spur in Bremen gefunden. Und zu meiner großen Freude hatte die damals von Stenbock mit der alten Pyramide beschenkte Andrea Barckhause­n dieses Stück über all die Jahre in Ehren und am Laufen gehalten.

Selbstvers­tändlich wird sich die Pyramide aus dem Erzgebirge auch dieser Tage wieder in Bremen drehen. So konnte ich einen langen Kreis schließen und gleichzeit­ig an Menschen erinnern, die der linken Sache verbunden waren – trotz aller Niederlage­n, die sie vor und nach 1945 erleben mussten.

»Schön sind diese Spielzeuge, die wir hier bewundern können, Reste einer alten sterbenden Volkskunst, und sie würden glücklich machen, wenn man nicht in der Lohnliste blättert und erkennt, unter welchen Arbeitsbed­ingungen die Heimarbeit­er ihre Werke schaffen.« A. Graf Stenbock-Fermor

 ?? Foto: Bernd Havenstein ??
Foto: Bernd Havenstein
 ?? Foto: Bernd Havenstein ?? Auf seiner Reise durch die »proletaris­che Provinz« erwarb Stenbock 1930 diese Pyramide.
Foto: Bernd Havenstein Auf seiner Reise durch die »proletaris­che Provinz« erwarb Stenbock 1930 diese Pyramide.
 ?? Foto: ullstein-bild ?? Alexander Graf Stenbock-Fermor (1902 – 1972)
Foto: ullstein-bild Alexander Graf Stenbock-Fermor (1902 – 1972)

Newspapers in German

Newspapers from Germany