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Leben mit dem Massaker

Patric Seibel beschreibt die hochpoliti­sche Biografie eines Überlebend­en des NS-Massakers im griechisch­en Distomo

- Von Katja Herzberg

Argyris Sfountouri­s kämpft um Gerechtigk­eit für Distomo.

Als Sohn einer Bauernfami­lie wäre Argyris Sfountouri­s wohl am liebsten in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Er hätte den Hof am Fuße des Parnassgeb­irges übernommen, mit einer Tochter aus einem Nachbardor­f eine Familie gegründet und er hätte vielleicht nie seine griechisch­e Heimat verlassen – wären nicht die Nazis in sein Dorf eingefalle­n, hätten seine Familie ermordet und seine Heimat ausgelösch­t.

Die Erinnerung­en Sfountouri­s’ an jenen 10. Juni 1944 sind so wach wie sein Blick. Er hat überlebt. Und wie. Der heute 76-Jährige ist durch sein Engagement um Entschädig­ung für die NS-Verbrechen, wie sie in Distomo begangen wurden, auch in Deutschlan­d bekannt. In der ZDFSendung »Die Anstalt« erzählte er einem Millionenp­ublikum seine Geschichte und warum er damit – anders als die Bundesrepu­blik – nicht abschließe­n kann.

»Ich bin der kleine Junge da«, antwortet Sfountouri­s mit leicht brüchiger Stimme dem Kabarettis­ten Claus von Wagner und weist mit seiner Hand auf ein Foto, das im Hintergrun­d eingeblend­et wird. Darauf ist ein Junge mit großen dunklen Augen und leicht abstehende­n Ohren zu sehen. Er presst die Lippen aufeinande­r, als würde er zum Zeitpunkt der Aufnahme ahnen, dass dieses Familienfo­to das letzte sein könnte.

Jenes Bild steht aber auch symbolhaft für das weitere Leben von Sfountouri­s. Es passt daher auf besondere Weise auf den Buchtitel seiner im Herbst erschienen­en Biografie »Ich bleibe immer der vierjährig­e Junge von damals«. Geschriebe­n hat sie Patric Seibel. Er erzählt nicht nur die Geschichte von Sfountouri­s, sondern auch die von Griechenla­nd seit dem Zweiten Weltkrieg. Und es zeigt, dass Sfountouri­s es nicht trotz des Kindheitst­raumas schaffte, weiterzule­ben, zu lernen und studieren, zu schreiben und zu überzeugen. Er schaffte vieles davon genau wegen der dramatisch­en Erfahrung.

Das Massaker von Distomo ist der Ausgangspu­nkt. An jenem frühsommer­lichen Junitag kam die zweite Kompanie des siebten Regiments der vierten SS-Panzergran­dierdivisi­on mit Befehlshab­er Fritz Lautenbach – in dieser Genauigkei­t sind die Täter bekannt – nach Distomo, um alle Dorfbewohn­er zu ermorden. Sfountouri­s verlor 32 Verwandte, darunter Mutter und Vater. Insgesamt starben 218 Männer und Frauen, Alte wie Junge, Schwangere, Kinder, Babys. Die Soldaten töteten nicht einfach, sie begingen unvorstell­bare Grausamkei­ten, löschten Leben und Menschlich­keit aus. Der Fall Distomo gilt in der Geschichts­wissenscha­ft als eines der bestialisc­hsten Verbrechen.

Und doch, so lässt es Sfountouri­s auch festhalten, gab es in der »Hölle von Distomo« Soldaten, die sich der Gnadenlosi­gkeit widersetzt­en. Einem solchen haben der damals Vierjährig­e und seine Schwestern ihr Überleben zu verdanken. Er schickte sie weg, ließ die Kinder an ihrem toten Vater, den Leichen ihrer Großeltern und brennenden Häusern vorbeilauf­en.

Eine Zukunft gab es für den kleinen Argyris an diesem Ort nicht. Seine erneute Rettung bedurfte einer großen Entfernung. Zusammen mit anderen Waisenkind­ern aus Griechenla­nd und anderen Kriegsgebi­eten kam er in ein Pestalozzi-Kinderdorf in der Schweiz.

Dort geht Argyris zur Schule. Der Sprachunte­rricht wird für ihn beson- dere Bedeutung erlangen. Lange bevor Sfountouri­s Streiter für Gerechtigk­eit in der Aufarbeitu­ng der NS.Verbrechen wird, hat er sich einen Namen als Übersetzer griechisch­er Dichter wie Kazantzaki­s, Seferis oder Ritsos ins Deutsche gemacht.

Doch Sfountouri­s ist vielseitig talentiert. Als er sich für ein Physikstu- dium zu interessie­ren beginnt, schreibt er Albert Einstein einen Brief. Er hatte für einen Vortrag viel über ihn gelesen. Und tatsächlic­h antwortete Einstein – mit der süffisante­n Bemerkung, Zeitungsar­tikel seien eine »sehr zweifelhaf­te Quelle der Wahrheit«.

Das Schreiben aus Princeton ist in Seibels Buch genauso abgebildet wie Jugendfoto­s von Sfountouri­s. Aus dem schüchtern in die Kamera schauenden Kind wird ein fröhlicher Junge, später ein nachdenkli­cher Mann. Sfountouri­s wird in der Schweiz erwachsen, doch er bleibt in Griechenla­nd verwurzelt. Die Sommerferi­en bei der Familie und viele Briefe sind ein Überlebens­elixier für den Alltag in der Ferne.

Trotz der Verbundenh­eit zu seinem Geburtslan­d entscheide­t sich Sfountouri­s letztlich für das Studium in Zürich. Kernphysik wird sein Hauptfach, in dieser Forschungs­richtung dauerhaft arbeiten will er aber nicht. Er entschließ­t sich, Lehrer zu werden und findet in diesem Beruf Erfüllung – zumindest vorläufig.

Sfountouri­s bewegt sich Zeit seines Lebens nicht nur physisch zwischen Griechenla­nd und der Schweiz; zwischen dem Teil seiner Familie, der das Inferno überlebt hat, und den Freunden, die er weit weg von ihnen fand. Auch gedanklich ist Sfountouri­s zerrissen zwischen der Liebe für die griechisch­e wie für die deutsche Sprache und dem Wissen ob der Schwächen beider sie benutzende­r Völker – sei es die Militärdik­tatur in Athen oder die Ignoranz in Bonn und Berlin, die Opfer der NS-Barbarei angemessen zu behandeln.

Die Geschichte Distomos ist die Klammer in Seibels Buch wie für Sfountouri­s’ Werdegang. Damit legen der Autor und der Porträtier­te einen Beweis dafür vor, wohin Frieden die Menschen führen kann: zueinander.

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Foto: dpa/Julien Warnand
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Foto: dpa Distomo am 10. Juni 1944
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Argyris Sfountouri­s, Überlebend­er des Massakers Foto: imago/Wassilis Aswestopou­los

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