Wie immer nach Attentaten: Viele wussten vieles
Gefordert werden mehr Datenbanken, mehr Datenaustausch – in der EU stößt der Informationstransfer auch auf unnötigen Widerstand
Ein verbesserter Datenaustausch ist die zentrale Forderung, die nach jedem schlagzeilenträchtigen Attentat erhoben wird. Doch da gebe es »auch Mentalitätsunterschiede«, weiß Thomas de Maizière (CDU). Es ist erstaunlich, wie viel die Behörden über Anis Amri, den mutmaßlichen Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, wissen. Hat all das Wissen nicht – juristisch sauber – ausgereicht, um Leben zu retten?
Bei dieser Frage fühlt man sich ein wenig an den Fall von Mehdi Nemmouche erinnert. Der hatte am 24. Mai 2014 vier Menschen im Jüdischen Museum in Brüssel erschossen. Unmittelbar nach dem Überfall hieß es, man habe eine heiße Spur, ein Mann wurde festgenommen. Doch es war nicht der Täter. Der war nicht, wie angenommen, mit einem Auto geflüchtet, sondern einfach zu Fuß. Er wurde erst am 30. Mai 2014 bei einer Routinezollkontrolle in Marseille aufgegriffen.
Auch von Nemmouche wussten französische Dienste – vor dem Morden in Brüssel – viel. Dieses Wissen teilten sie aber nicht ausreichend mit anderen. Am 18. März 2014 war Nemmouche am Frankfurter Flughafen wieder in den Schengenraum eingereist. Bei der Kontrolle stellte die Bundespolizei fest, dass er von den französischen Behörden zur Fahndung ausgeschrieben war. Doch es gab den Hinweis: Keine Festnahme.
Warum? Weil französische Dienste diesen Mann unbedingt selbst fangen wollten? Einiges spricht dafür. Denn der damals 29 Jahre alte Syrien-Rückkehrer gehörte zu jenen Dschihadisten, die vier französische Journalisten gepeinigt hatten. Nemmouche sei ein angsteinflößender und unberechenbarer Bewacher gewesen, schilderte eines seiner Opfer. Ein anderer Gefangener meinte, Nemmouche habe vor »innerer Gewalt gebrodelt«, zwar nichts vom Islam verstanden, doch umsomehr »das Weltjudentum« gehasst. Paris konnte die vier Journalisten mit knapper Not freikaufen, ein US-Kollege, der im selben Kerker gefangen war, wurde geköpft. Hätte der Bundespolizist, der den Franzosen kontrollierte, etwas mehr gewusst, er hätte weiteres Unglück verhindern können.
Man kann diverse Pannen beim Informationsaustausch innerhalb der EU anführen. Das hat nichts mit »Mentalitätsunterschieden« zu tun, das ist handwerklicher Pfusch. So war der mutmaßliche Mörder einer jungen Frau in Freiburg den griechischen Behörden bestens bekannt, schließlich entließen sie den Gewalttäter aus der Haft.
Prinzipiell ist die EU nicht schlecht gegen Terror aller Art gerüstet. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde bei der europäischen Polizeibehörde EUROPOL eine AntiTerror-Taskforce eingerichtet. Seither hat es über 230 Anti-Terror-Verordnungen gegeben. Man hat im Bereich Reise, Migration und Sicherheit verschiedenste Dateien angelegt, nationale, multilaterale.
Ein Kernproblem: Evaluiert wurden all die Systeme bisher nicht. Würde man das tun, wäre die Bilanz mit Sicherheit vernichtend. Das hat nicht so sehr damit zu tun, dass dem Abgleich von verknüpften Polizeidatenbanken rechtliche Hürden entgegenstehen. Viele Mitgliedstaaten nutzen unterschiedliche Systeme, die nicht immer mit der Soft- und Hardware bei EUROPOL harmonieren. Manche Mitgliedstaaten überschütten die Systeme regelrecht mit Daten, andere beteiligen sich gar nicht am digitalen Informationsaustausch. Auch um da mehr Effizienz hineinzubringen, nahm im Januar bei EUROPOL ein »European Counter Terrorism Center« den Betrieb auf. 50 Spezialisten sollen Informationen über Terroristen zusammentragen und auswerten – auf einer eigenen Plattform. Die jedoch scheint eher strategische Bedeutung zu haben.
Deutschland sei vorbildlich bei der Datenbereitstellung für die EU-Sicherheitspartner, heißt es. Man kann ja auch aus einem großen Topf schöpfen. Allein in der deutschen Anti-Terror-Datei sind rund 15 000 Personendatensätze gespeichert. Der überwiegende Teil der erfassten Personen ge- hört radikalen islamistischen Organisationen im Ausland an, die Verbindungen zu Deutschland aufweisen.
Doch vieles, was deutsche Dienste wissen, bleibt für EU-Partner tabu. Beispielsweise wenn die Informationen aus der Zusammenarbeit mit USDiensten erwachsen. Jüngst erst hat der Bundestag vorsichtig den erweiterten Austausch ermöglicht. So kann der Verfassungsschutz künftig mit Partnerdiensten insbesondere der EU, der NATO sowie gleichgestellter Länder wie Israel gemeinsame Dateien anlegen, um Erkenntnisse über Personen, Objekte oder Ereignisse zu teilen. Regierung und Koalition brachten das nach den Anschlägen von Paris und Brüssel im Eiltempo durch – was die Opposition scharf kritisierte.
Dass die Regierung so einen erweiterten Datenaustausch befürwortet, hat simple Eigeninteressen. Trotz aller Beteuerung der gemeinsamen Lage und der extrem hohen Terrorgefahr bleiben Geheimdienste beim alten Grundsatz: Willst du Daten von mir, will ich welche von dir.