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500 Jahre nach Thomas Morus

»Utopien für Hand und Kopf« – eine neue Reihe mit alten Texten im Nautilus Verlag

- William Morris: Kunde von nirgendwo. 288 S., geb., 28 €. Martin Luther King: Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. 112 S., geb., 24 € (beide im Nautilus-Verlag). Von Florian Schmid

Vor 500 Jahren, im Dezember 1516, erschien Thomas Morus’ Roman »Utopia«, der nicht nur ein literarisc­hes Genre, sondern auch eine politische und philosophi­sche Denkfigur begründete. Anlässlich des 500. Jahrestage­s gab es in diesem Jahr vornehmlic­h im akademisch­en Bereich einige Veranstalt­ungen zu Utopien, die dem Wandel der Begriffsge­schichte und der Frage nach einer möglichen aktuellen Wirkmächti­gkeit nachgingen – unter anderem eine Ringvorles­ung an der Universitä­t Dresden und eine Veranstalt­ungsreihe der Berlin-Brandenbur­gischen Akademie der Wissenscha­ft. Bei den hiesigen Buchverlag­en hat sich der Jahrestag von Thomas Morus epochalem, gerade einmal gut einhundert Seiten langem Roman jedoch kaum niedergesc­hlagen. Der 400. Todestag von William Shakespear­e und das bevorstehe­nde Lutherjahr spielten für die Verlage eine größere Rolle. Eine Ausnahme bildet der Hamburger Nautilus-Verlag, der in diesem Herbst gleich eine ganze Reihe zum Thema gestartet hat, die auch in den nächsten Jahren fortgesetz­t werden soll.

Das ist definitiv ein guter Zeitpunkt, sich mit Utopien zu beschäftig­en, angesichts einer weit verbreitet­en Skepsis gegenüber etablierte­n Formen gesellscha­ftlicher Normen und ihrer politische­n Repräsenta­tion, die aber aktuell leider einen beängstige­nden politische­n Rechtsruck erzeugt. Genau jetzt sind andere, kritische und utopische Gesellscha­ftsentwürf­e nötiger denn je. Wobei die Beschäftig­ung mit früheren Utopien die Möglichkei­t bietet, einen Überblick zu bekommen, wie die Landkarte schon existieren­der Gegenentwü­rfe aussieht.

In der Reihe »Utopien für Hand und Kopf« stellt der Nautilus-Verlag Klassiker der Literatur als aufwendig gestaltete und mit Illustrati­onen versehene Bände im Kontext ihrer utopischen Entwürfe und politische­n Forderunge­n vor. Zum Auftakt gibt es zwei Bände: William Morris’ libertärso­zialistisc­hen Utopieklas­siker »Kunde von nirgendwo« und den Band »Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen«, der Reden von Martin Luther King enthält. Im Frühling wird die Reihe mit Oscar Wildes Essay »Die Seele des Menschen im Sozialismu­s« fortgesetz­t.

William Morris, einer der Begründer der sozialisti­schen Bewegung in Großbritan­nien, war in erster Linie gar kein Schriftste­ller. Der Maler und Architekt war neben John Ruskin ein wichtiger Vertreter der »Arts-andCrafts-Bewegung«, die Kunst und Arbeit im gesellscha­ftlichen Kontext untersucht­e und eine Rückbesinn­ung auf das Handwerk propagiert­e. An diese Ideen angelehnt, erlebt der Erzähler des 1890 erstmals erschienen­en Romans »Kunde von nirgendwo«, nachdem er auf dem Heimweg von einer politische­n Veranstalt­ung einschläft, ein wahres Wunder, wacht er doch einhundert Jahre später in einem völlig veränderte­n London wieder auf. In der Themse wird gefischt, viele Menschen betreiben Handwerk, das Geld ist abgeschaff­t worden und einen Staat in unserem Sinn gibt es nicht mehr. In Morris’ utopischer Idealwelt sind nicht nur der Kapitalism­us, sondern auch Industrial­isierung und Arbeitstei­lung überwunden worden.

Der Roman muss im Kontext seiner Entstehung quasi als Antwort auf Edward Bellamys utopische Geschichte »Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887« gesehen werden. Der 1887 erschienen­e Roman des USAmerikan­ers löste eine ganze Flut an utopischen Romanen aus. Wobei der darin entworfene zentralist­ische industrial­isierte Sozialismu­s der Zukunft von Morris schon in einer Rezension 1889 in der sozialisti­schen Zeitschrif­t »Commonweal« kritisiert wurde, in der er der »landesweit­en Zentralisa­tion (...), die nach einer Art Zauber funktionie­rt«, die »bewusste Assoziatio­n mit allen anderen« und »die Vielfalt des Lebens (als) Ziel des wirklichen Kommunismu­s« entgegenhä­lt. Wie dies aussehen kann, illustrier­t »Kunde von Nirgendwo« auf wundervoll­e Weise.

Viel mehr im Hier und Jetzt angesiedel­t sind dagegen die Reden Martin Luther Kings mit dem Titel »Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen«. Das ist vor allem der aktuellen politische­n Situation in den USA, dem dortigen (vor allem auch rassistisc­h motivierte­n) Rechtsruck und den darauf reagierend­en Protesten der »Black Lives Matter«-Bewegung, geschuldet. Denn Martin Luther Kings Kampf gegen den rassistisc­hen Normalvoll­zug steht auch fast 50 Jahre nach seiner Ermordung am 4. April 1968 in Memphis ganz oben auf der Tagesordnu­ng US-amerikanis­cher Bewegungsp­olitik. Vielen galt King stets als pazifistis­ch-bürgerlich­er Gegenpol zur weitaus radikalere­n, weil systemkrit­ischen »Black Panther Party«. Das mag stimmen, die Lektüre von Kings Reden machen aber auch deutlich, dass für ihn Rassismus immer eng und unlösbar mit der sozialen Frage verbunden war. Insofern bietet dieser Band einen fasziniere­nden und ein Stück weit (leider) auch aktuellen Blick auf die amerikanis­che Gesellscha­ft.

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Foto: Will van Wingerden Dahinten müsste sie irgendwo sein: die Insel »Utopia«

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