500 Jahre nach Thomas Morus
»Utopien für Hand und Kopf« – eine neue Reihe mit alten Texten im Nautilus Verlag
Vor 500 Jahren, im Dezember 1516, erschien Thomas Morus’ Roman »Utopia«, der nicht nur ein literarisches Genre, sondern auch eine politische und philosophische Denkfigur begründete. Anlässlich des 500. Jahrestages gab es in diesem Jahr vornehmlich im akademischen Bereich einige Veranstaltungen zu Utopien, die dem Wandel der Begriffsgeschichte und der Frage nach einer möglichen aktuellen Wirkmächtigkeit nachgingen – unter anderem eine Ringvorlesung an der Universität Dresden und eine Veranstaltungsreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft. Bei den hiesigen Buchverlagen hat sich der Jahrestag von Thomas Morus epochalem, gerade einmal gut einhundert Seiten langem Roman jedoch kaum niedergeschlagen. Der 400. Todestag von William Shakespeare und das bevorstehende Lutherjahr spielten für die Verlage eine größere Rolle. Eine Ausnahme bildet der Hamburger Nautilus-Verlag, der in diesem Herbst gleich eine ganze Reihe zum Thema gestartet hat, die auch in den nächsten Jahren fortgesetzt werden soll.
Das ist definitiv ein guter Zeitpunkt, sich mit Utopien zu beschäftigen, angesichts einer weit verbreiteten Skepsis gegenüber etablierten Formen gesellschaftlicher Normen und ihrer politischen Repräsentation, die aber aktuell leider einen beängstigenden politischen Rechtsruck erzeugt. Genau jetzt sind andere, kritische und utopische Gesellschaftsentwürfe nötiger denn je. Wobei die Beschäftigung mit früheren Utopien die Möglichkeit bietet, einen Überblick zu bekommen, wie die Landkarte schon existierender Gegenentwürfe aussieht.
In der Reihe »Utopien für Hand und Kopf« stellt der Nautilus-Verlag Klassiker der Literatur als aufwendig gestaltete und mit Illustrationen versehene Bände im Kontext ihrer utopischen Entwürfe und politischen Forderungen vor. Zum Auftakt gibt es zwei Bände: William Morris’ libertärsozialistischen Utopieklassiker »Kunde von nirgendwo« und den Band »Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen«, der Reden von Martin Luther King enthält. Im Frühling wird die Reihe mit Oscar Wildes Essay »Die Seele des Menschen im Sozialismus« fortgesetzt.
William Morris, einer der Begründer der sozialistischen Bewegung in Großbritannien, war in erster Linie gar kein Schriftsteller. Der Maler und Architekt war neben John Ruskin ein wichtiger Vertreter der »Arts-andCrafts-Bewegung«, die Kunst und Arbeit im gesellschaftlichen Kontext untersuchte und eine Rückbesinnung auf das Handwerk propagierte. An diese Ideen angelehnt, erlebt der Erzähler des 1890 erstmals erschienenen Romans »Kunde von nirgendwo«, nachdem er auf dem Heimweg von einer politischen Veranstaltung einschläft, ein wahres Wunder, wacht er doch einhundert Jahre später in einem völlig veränderten London wieder auf. In der Themse wird gefischt, viele Menschen betreiben Handwerk, das Geld ist abgeschafft worden und einen Staat in unserem Sinn gibt es nicht mehr. In Morris’ utopischer Idealwelt sind nicht nur der Kapitalismus, sondern auch Industrialisierung und Arbeitsteilung überwunden worden.
Der Roman muss im Kontext seiner Entstehung quasi als Antwort auf Edward Bellamys utopische Geschichte »Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887« gesehen werden. Der 1887 erschienene Roman des USAmerikaners löste eine ganze Flut an utopischen Romanen aus. Wobei der darin entworfene zentralistische industrialisierte Sozialismus der Zukunft von Morris schon in einer Rezension 1889 in der sozialistischen Zeitschrift »Commonweal« kritisiert wurde, in der er der »landesweiten Zentralisation (...), die nach einer Art Zauber funktioniert«, die »bewusste Assoziation mit allen anderen« und »die Vielfalt des Lebens (als) Ziel des wirklichen Kommunismus« entgegenhält. Wie dies aussehen kann, illustriert »Kunde von Nirgendwo« auf wundervolle Weise.
Viel mehr im Hier und Jetzt angesiedelt sind dagegen die Reden Martin Luther Kings mit dem Titel »Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen«. Das ist vor allem der aktuellen politischen Situation in den USA, dem dortigen (vor allem auch rassistisch motivierten) Rechtsruck und den darauf reagierenden Protesten der »Black Lives Matter«-Bewegung, geschuldet. Denn Martin Luther Kings Kampf gegen den rassistischen Normalvollzug steht auch fast 50 Jahre nach seiner Ermordung am 4. April 1968 in Memphis ganz oben auf der Tagesordnung US-amerikanischer Bewegungspolitik. Vielen galt King stets als pazifistisch-bürgerlicher Gegenpol zur weitaus radikaleren, weil systemkritischen »Black Panther Party«. Das mag stimmen, die Lektüre von Kings Reden machen aber auch deutlich, dass für ihn Rassismus immer eng und unlösbar mit der sozialen Frage verbunden war. Insofern bietet dieser Band einen faszinierenden und ein Stück weit (leider) auch aktuellen Blick auf die amerikanische Gesellschaft.