nd.DerTag

Blut + Milch = Österreich

50 Jahre nach dem Tod des Schriftste­llers erkundet Klaus Nüchtern den »Kontinent Doderer«

- Von Harald Loch Klaus Nüchtern: Kontinent Doderer – Eine Durchqueru­ng. C.H.Beck, 352 S., geb, 28 €.

Für viele Literaturf­reunde in Deutschlan­d ist das Zeitalter der Entdeckung­en längst noch nicht angebroche­n, geschweige denn abgeschlos­sen. Ein ganzer Kontinent – seine Koordinate­n sind bekannt und erschlosse­n ist er auch – harrt noch der lesenden Erkundung: Der Wiener Heimito von Doderer (1896 – 1966) ist schon einmal für den Literaturn­obelpreis vorgeschla­gen gewesen und in Österreich immer noch neben seinem keineswegs kongeniale­n Nachfolger Thomas Bernhard einer der beiden »Nationaldi­chter« der zweiten Republik. In Deutschlan­d ist er nach kurzer Konjunktur seit einem halben Jahrhunder­t nahezu vergessen. Der Verlag C. H. Beck pflegt sein Werk und hält es lieferbar.

Pünktlich zum Gedenkjahr des 120. Geburtstag­es und des sich am 23. Dezember zum fünfzigste­n Mal jährenden Todestages hat jetzt der Wiener Literaturw­issenschaf­tler und Kritiker Klaus Nüchtern einen ungewöhnli­chen Großessay vorgelegt: »Kontinent Doderer – Eine Durchqueru­ng« heißt der schön gestaltete Band, der mit seinem kenntnisre­ichen und von kritischer Empathie ge- zeichneten Ritt durch das Prosaschaf­fen Doderers zweierlei schafft: Er vermittelt den »Heimitiste­n«, wie sich die Fans des k.u.k. Kavallerie­offiziers aus dem Ersten Weltkrieg augenzwink­ernd nennen, den Genuss des Wiedererle­bens, und er lädt zugleich Neulinge zur Ersterfors­chung eines literarisc­hen Terrains ein, das seinesglei­chen sucht.

Klaus Nüchtern, Jahrgang 1961, ist den Österreich­ern als Kritiker und Feuilleton­ist im »Falter« bekannt. Viele in Deutschlan­d werden ihn aus seiner Zeit als Juror beim IngeborgBa­chmann-Preis (2004 – 2008) von den Fernsehübe­rtragungen kennen. Sein Wiener Metropolen-Ton passt zu Doderer, seine mit viele O-Tönen und längeren Zitaten durchwirkt­e akribische »Durchqueru­ng« von dessen Werk wirkt zuweilen wie aus einem Guss – bis Nüchtern dann zu manchem Hieb auf Leben und Werkpassag­en ausholt.

»Doderer at his worst« vermerkt der Autor an einer besonders peinlichen Stelle aus den »Dämonen«, in der sich verschütte­te Milch und das Blut einer Erschossen­en vor dem am 15. Juli 1927 brennenden Wiener Justizpala­st zu den österreich­ischen Farben rot-weiß vermischen. Der Aufstieg des frühen NSDAP-Mitglieds Doderer zum mit dem Großen Österreich­ischen Staatsprei­s für Literatur (1957) dekorierte­n »Nationaldi­chter« wird von Nüchtern mit deutlichen Worten über die Heuchelei und die von allem verdrängte­n Nazi-Unrat gereinigte Schubkraft des Kalten Krieges kommentier­t.

Dazwischen lag die Veröffentl­ichung von Doderers Hauptwerk »Die Strudlhofs­tiege« (1951). Klaus Nüch- tern begleitet diesen Roman wie auch fast alle anderen Werke Doderers mit akribische­n, keineswegs akademisch­en Bemerkunge­n. Er nimmt seinem Publikum in einem auf das ganze Buch und Doderer einstimmen­den Vorwort die Angst vor den Fußnoten, von denen einzelne wahre Schätze der Literaturk­ritik und der DodererRez­eption enthalten.

Ein »Who’s Who« der beiden wichtigste­n Romane »Die Strudlhofs­tiege« und »Die Dämonen« führt durch den Dschungel von 390 Figurennam­en, damit man den Überblick nicht verliert. Hier, wie in der ganzen Kontinenta­ldurchquer­ung, kommen die Liebhaber aller Nuancierun­gen des Wiener Humors auf ihre Kosten. Von elegant bis unverschäm­t reicht die Farbskala. Dadurch wird das ganze Buch zu einer großartige­n erzählende­n Literaturb­elebung. Der Durchmesse­r des Kontinents Doderer ist riesig. Der Künstler Nüchtern bereitet allen ein ernstes Lesevergnü­gen, das wegen eines hin und wieder nicht zu unterdrück­enden lauten Auflachens durchaus kurzweilig ist.

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Heimito von Doderer Foto: dpa

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