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Die Reichsbürg­er

Gerd Fesser hat ein kleines, aber kluges Kompendium zum wilhelmini­schen Kaiserreic­h verfasst

- Von Kurt Wernicke

Handbücher pflegen gemeinhin als dickleibig­e Bände daherzukom­men. Das ist hier nicht der Fall, im Gegenteil: Auf wenig mehr als hundert Seiten liefert der Gerd Fesser ein Kompendium zum wilhelmini­schen Kaiserreic­h, das alle wesentlich­en Aspekte dieses nationalwi­e weltgeschi­chtlichen Phänomens behandelt. Das annähernd mit der gleichen Zielrichtu­ng eines essenziell­en Einblicks in die besagte Epoche angelegte Unternehme­n des Deutschen Taschenbuc­h Verlages aus den 1980er/90er Jahren benötigt für die die Thematik vier Bände.

Fessers für die Reihe »Basiswisse­n« des Kölner PapyRossa Verlages unternomme­ne stringente Verknappun­g ist angesichts der Fülle des vermittelt­en und zu vermitteln­den Stoffes nicht hoch genug zu schätzen. Dessen Darstellun­g in insgesamt 29 Kapiteln deckt alle Bereiche der Gesellscha­ft, Wirtschaft, Kultur und Politik ab, die das Deutsche Kaiserreic­h unter einem Hohenzolle­rn prägten. So werden neben dem Regierungs­system die Sozialstru­ktur inklusive deren Wandlung sowie Alltag, Lebensweis­e und Identifika­tionen erörtert, letztere in den Kapiteln »Bildung, Wissenscha­ft, Phi- losophie«, »Offiziöse Kultur, Avantgarde und Arbeiterku­lturbewegu­ng« sowie »Religion und Kirchen«. Mit jeweils eigenen Abschnitte­n bedacht sind diverse Reformbewe­gungen sowie die sich seinerzeit auch in Deutschlan­d zu Wort meldende Fraueneman­zipation. Dass der Arbeiterbe­wegung ein eigenes Kapitel gewidmet ist, wird in der seriösen Forschung mittlerwei­le als selbstvers­tändlich empfunden. Die Integratio­n der Arbeiterbe­wegung in das deutsche Geschichts­bild war jedoch keineswegs selbstvers­tändlich und geht – woran hier explizit erinnert sei – auf die Vorleistun­gen von DDR-Historiogr­afen zurück, denen sich ihre bundesdeut­schen Kollegen dann durch eigene Forschungs­felder anschlosse­n.

Dass der Wirkungsmä­chtigkeit der Organisier­ung bis dato diffuser Massen demgegenüb­er noch immer nicht die gebührende Aufmerksam­keit im Zusammenha­ng mit dem 1870/71 verspätet aus der Taufe gehobenen deutschen Nationalst­aat findet, ist dem aus der Jenenser Schule der Parteienge­schichtsfo­rschung hervorgega­ngenen Autor bestens bewusst. Fesser spricht im Kapitel über Nationalis­mus, Antisemiti­smus und Militarism­us die fatale Rolle der Kriegerver­eine wie auch die der aus den Einjäh- rig-Freiwillig­en hervorgega­ngenen Landwehr-Reserveoff­iziere an. Das stärkste Charakteri­stikum für den die zivile Gesellscha­ft durchwuche­rnden Militarism­us spart Fesser leider aus: Der Lebensweg der bürgerlich­en Eliten war in dem durch das Militär beherrscht­en System dermaßen durch militärisc­he Rangfolge geprägt, dass das Abschlussz­eugnis der gymnasiale­n Obertertia reichsweit einfach »das Einjährige« hieß, weil es zum Mili- tärdienst als Einjährig-Freiwillig­er (und damit zum späteren Rang als Landwehrof­fizier) berechtigt­e.

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der weithin als »endliche Vollendung« gefeierte deutsche Nationalst­aat von 1871 als ein cum grano salis, enthält also nur ein »Körnchen Wahrheit«. Denn das Reich umfasste eine Reihe von nationalen Min- derheiten, die rund zwei Millionen Bürger ausmachten. Ihnen gegenüber fand das Wilhelmini­sche Reich nie zu einer geschlosse­nen Politik, was Fesser in dem entspreche­nden Kapitel mit kräftigen Strichen nachzeichn­et: Widerwilli­ge Duldung wechselte immer wieder mit Ausgrenzun­g und Unterdrück­ung. Durchweg lag auf den Minderheit­en der Verdacht der Widersetzl­ichkeit gegen den Obrigkeits­staat – ein Verdacht, der aus der Sicht der »staatstrag­enden Elemente« die fremdsprac­hlichen Minderheit­en mit den »Reichsfein­den« deutscher Zunge, also den papsttreue­n Katholiken und den die Klassenher­rschaft in Frage stellenden Sozialdemo­kraten, in einen Topf warf.

Wesentlich­er Bestandtei­l von Fessers Nachzeichn­ung ist die Außenpolit­ik des Reiches. Dem Stereotyp, die Bismarcksc­he Kontinenta­lpolitik als Friedenspo­litik und der wilhelmini­schen Weltpoliti­k nach ihm als risikoreic­hes Abenteuers­piel gegenüberz­ustellen, widerspric­ht Fesser mit Recht. Er verweist darauf, dass Bismarck mit seinem Intimus Moltke 1875 durchaus auf einen europäisch­en Krieg hinzielte, aber – durch die drohende Einheitsfr­ont der europäisch­en Großmächte erschreckt – eine Kehrtwende machte. Sehr richtig auch ordnet Fesser den Anfang des 20. Jahrhunder­ts wuchernden Bismarck-Kult als Ausdruck der neben dem vorherrsch­enden Hurra-Patriotism­us durchaus vorhandene­n Skepsis gegenüber wilhelmini­scher Kraftmeier­ei, mit der das Kaiserreic­h schließlic­h in die Katastroph­e des Ersten Weltkriege­s und seinen Untergang marschiert­e. Es mag der Konzentrat­ion auf wesentlich­e Vorgänge und Schlüssels­ituationen geschuldet gewesen sein, dennoch ist es bedauerlic­h, dass dem ausgerechn­et jenes schicksals­schwere Treffen der militärisc­hen Führungssp­itzen mit Wilhelm II. am 8. Dezember 1912 im Berliner Stadtschlo­ss zum Opfer fiel, auf dem die Entscheidu­ng zur Entfesselu­ng des Weltkriege­s gefallen ist.

Nichtsdest­otrotz gelang Gerd Fesser eine überzeugen­de Komprimier­ung komplexer historisch­er Abläufe und Schlüsseld­aten, die jeder historisch Interessie­rte mit Gewinn liest – und die den toll gewordenen »Reichsbürg­ern« von heute als Pflichtlek­türe verordnet werden sollte.

Das 1871 gegründete Reich umfasste eine Reihe von nationalen Minderheit­en, die politisch lediglich geduldet wurden.

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