Spekulationen statt Fakten
Es braucht wahrscheinlich noch einige Zeit, bis die Medien sich daran gewöhnt haben, dass mit Anbruch der digitalen Kommunikation ihnen eine ganz besondere Verantwortung bei der Übermittlung von Informationen zufällt; sie dürfen diese nicht ungeprüft weiterverbreiten, weil alles, was als Information ins Netz gestellt wird, ein Eigenleben führt und selbst dann noch von vielen als wahr betrachtet wird, wenn es sich längst als falsch herausgestellt hat. Die Medien müssen dafür aber das Rad nicht neu erfinden, sie müssen nur den guten alten Grundsatz beherzigen, den jeder Journalistenschüler in seiner Ausbildung beigebracht bekommt, wonach jede Information erst dann als Nachricht weiterverbreitet werden darf, wenn sie von mindestens einer anderen Quelle bestätigt wird. Das schließt zwar nicht aus, dass es dennoch zu Falschmeldungen kommt, reduziert aber das Risiko, Unwahres zu verbreiten.
Die Nachrichtenagentur dpa, die für viele Zeitungen nach wie vor eine erste Informationsquelle ist, hat für den Online-Journalismus ein Artikelformat entwickelt, das helfen soll, Spekulationen von gesicherten Tatsachen zu unterscheiden. Es nennt sich »Was wir wissen und was nicht«. Die Nagelprobe hatte dieses Format nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin zu bestehen, der sich am Abend des 19. Dezember ereignete. Leider, so Stefan Niggemeier auf uebermedien.de, habe auch dpa seinen Standard nicht eingehalten. So habe die Agentur in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember unter »Was wir wissen« getickert: »›Der festgenommene mutmaßliche Fahrer könnte nach Erkenntnissen aus Sicherheitskreisen ein Pakistaner oder Afghane sein. Er sei wohl als Flüchtling eingereist.‹ Das ist ziemlich exakt das Gegenteil dessen, was ein ›Was wir wissen‹-Listenpunkt wäre: Eine anonyme Quelle, eine Möglichkeit anstelle einer Tatsache (und diese Möglichkeit besteht dann auch noch aus zwei Möglichkeiten), ein vages ›wohl‹, das die Einreise als Flüchtling relativiert. Entsprechend konsequent (und gleichzeitig ironisch) ist es, dass sich in derselben Agenturmeldung unter ›Was wir nicht wissen‹ der Punkt findet: ›Unklar ist die Identität des festgenommenen Verdächtigen (…). Zwar heißt es in Sicherheitskreisen, der Verdächtige könnte ein Pakistaner oder Afghane sein. Eine genaue Identifizierung sei jedoch schwierig, da möglicherweise auch falsche Namen benutzt würden.‹«
Wenn selbst ein seriöses Medium wie dpa munter Tatsachen mit Spekulationen mischt und dabei nicht einmal exakte Quellen nennt (»Sicherheitskreise« ist eine sehr vage Formulierung), braucht man sich nicht zu wundern, wenn die üblichen Verdächtigen aus dem Springer-Verlag noch eine Schippe drauflegen. Auf
bildblog.de ist dokumentiert, wie z.B. welt.de bereits um 23.16 Uhr des Tatabends verkündete: »Täter soll Tschetschene sein«; 16 Minuten später hieß es dann: »Täter soll nicht Tschetschene, sondern Pakistaner sein«. Da war das Gerücht aber in den sozialen Netzwerken bereits im Umlauf. Später wurde vermutet, dass der Täter aus Afghanistan stammt.
bild.de übernahm dann sowohl Pakistan als auch Afghanistan als Herkunftsland und erklärte den Festge- nommenen zum »Todes-Fahrer von Berlin«. Obwohl der Festgenommene zu diesem Zeitpunkt lediglich ein Tatverdächtiger war, blieb auch die in Berlin erscheinende Boulevard-Postille B.Z. mit der Überschrift »Täter bestreitet die Tat« konsequent bei ihrer Darstellung, dass es bereits einen Täter gebe. Im Laufe des 20. Dezember wurde der Verdächtige von der Polizei schließlich als unschuldig eingestuft und wieder freigelassen.
Viele Redaktionen haben sich allerdings auch verantwortungsvoll verhalten. Und auf zeit.de gibt der »Zeit«-Journalist Yassin Musharbash Tipps, wie die Medien sich künftig bei ähnlichen Ereignissen wie dem in Berlin verhalten sollten. Musharbash, der 1975 als Sohn eines aus Jordanien emigrierten Politikers in Bad Iburg geboren wurde, hat selbst früher in Berlin gelebt, vor einem halben Jahr zog er in die jordanische Hauptstadt Amman. Von dort aus hat er die Ereignisse in Berlin mitverfolgt. »An einem Tag wie diesem«, schrieb er am Morgen des 20. Dezember, »heißt es geduldig sein. Vielleicht wird es sich bestätigen, dass es sich bei dem Fahrer um einen Afghanen oder Pakistaner handelt, der als Flüchtling nach Deutschland einreiste. Vielleicht auch nicht. Aber die Antworten werden kommen, die meisten jedenfalls, die wichtigsten. Nur eben nicht heute. Wir werden erfahren, ob es ein Anschlag war. Es wird sich herausstellen, ob der Fahrer aus dschihadistischer Motivation gehandelt hat. Der IS wird sich bekennen oder nicht. Und dieses Bekenntnis wird glaubwürdig sein oder nicht. Andere Fragen werden vielleicht nie beantwortet. Den Täter als Person werden wir womöglich nie verstehen. Damit müssen wir dann leben. (...) Es wird Streit geben. Das ist sicher. Davor darf man auch keine Angst haben. Als Bürger nicht. Als Politiker nicht. Aber an einem Tag wie diesem, am Tag danach, wenn man noch kaum etwas weiß, muss man damit noch nicht anfangen.«