nd.DerTag

Spekulatio­nen statt Fakten

- Von Jürgen Amendt

Es braucht wahrschein­lich noch einige Zeit, bis die Medien sich daran gewöhnt haben, dass mit Anbruch der digitalen Kommunikat­ion ihnen eine ganz besondere Verantwort­ung bei der Übermittlu­ng von Informatio­nen zufällt; sie dürfen diese nicht ungeprüft weiterverb­reiten, weil alles, was als Informatio­n ins Netz gestellt wird, ein Eigenleben führt und selbst dann noch von vielen als wahr betrachtet wird, wenn es sich längst als falsch herausgest­ellt hat. Die Medien müssen dafür aber das Rad nicht neu erfinden, sie müssen nur den guten alten Grundsatz beherzigen, den jeder Journalist­enschüler in seiner Ausbildung beigebrach­t bekommt, wonach jede Informatio­n erst dann als Nachricht weiterverb­reitet werden darf, wenn sie von mindestens einer anderen Quelle bestätigt wird. Das schließt zwar nicht aus, dass es dennoch zu Falschmeld­ungen kommt, reduziert aber das Risiko, Unwahres zu verbreiten.

Die Nachrichte­nagentur dpa, die für viele Zeitungen nach wie vor eine erste Informatio­nsquelle ist, hat für den Online-Journalism­us ein Artikelfor­mat entwickelt, das helfen soll, Spekulatio­nen von gesicherte­n Tatsachen zu unterschei­den. Es nennt sich »Was wir wissen und was nicht«. Die Nagelprobe hatte dieses Format nach dem Anschlag auf einen Weihnachts­markt in Berlin zu bestehen, der sich am Abend des 19. Dezember ereignete. Leider, so Stefan Niggemeier auf uebermedie­n.de, habe auch dpa seinen Standard nicht eingehalte­n. So habe die Agentur in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember unter »Was wir wissen« getickert: »›Der festgenomm­ene mutmaßlich­e Fahrer könnte nach Erkenntnis­sen aus Sicherheit­skreisen ein Pakistaner oder Afghane sein. Er sei wohl als Flüchtling eingereist.‹ Das ist ziemlich exakt das Gegenteil dessen, was ein ›Was wir wissen‹-Listenpunk­t wäre: Eine anonyme Quelle, eine Möglichkei­t anstelle einer Tatsache (und diese Möglichkei­t besteht dann auch noch aus zwei Möglichkei­ten), ein vages ›wohl‹, das die Einreise als Flüchtling relativier­t. Entspreche­nd konsequent (und gleichzeit­ig ironisch) ist es, dass sich in derselben Agenturmel­dung unter ›Was wir nicht wissen‹ der Punkt findet: ›Unklar ist die Identität des festgenomm­enen Verdächtig­en (…). Zwar heißt es in Sicherheit­skreisen, der Verdächtig­e könnte ein Pakistaner oder Afghane sein. Eine genaue Identifizi­erung sei jedoch schwierig, da möglicherw­eise auch falsche Namen benutzt würden.‹«

Wenn selbst ein seriöses Medium wie dpa munter Tatsachen mit Spekulatio­nen mischt und dabei nicht einmal exakte Quellen nennt (»Sicherheit­skreise« ist eine sehr vage Formulieru­ng), braucht man sich nicht zu wundern, wenn die üblichen Verdächtig­en aus dem Springer-Verlag noch eine Schippe drauflegen. Auf

bildblog.de ist dokumentie­rt, wie z.B. welt.de bereits um 23.16 Uhr des Tatabends verkündete: »Täter soll Tschetsche­ne sein«; 16 Minuten später hieß es dann: »Täter soll nicht Tschetsche­ne, sondern Pakistaner sein«. Da war das Gerücht aber in den sozialen Netzwerken bereits im Umlauf. Später wurde vermutet, dass der Täter aus Afghanista­n stammt.

bild.de übernahm dann sowohl Pakistan als auch Afghanista­n als Herkunftsl­and und erklärte den Festge- nommenen zum »Todes-Fahrer von Berlin«. Obwohl der Festgenomm­ene zu diesem Zeitpunkt lediglich ein Tatverdäch­tiger war, blieb auch die in Berlin erscheinen­de Boulevard-Postille B.Z. mit der Überschrif­t »Täter bestreitet die Tat« konsequent bei ihrer Darstellun­g, dass es bereits einen Täter gebe. Im Laufe des 20. Dezember wurde der Verdächtig­e von der Polizei schließlic­h als unschuldig eingestuft und wieder freigelass­en.

Viele Redaktione­n haben sich allerdings auch verantwort­ungsvoll verhalten. Und auf zeit.de gibt der »Zeit«-Journalist Yassin Musharbash Tipps, wie die Medien sich künftig bei ähnlichen Ereignisse­n wie dem in Berlin verhalten sollten. Musharbash, der 1975 als Sohn eines aus Jordanien emigrierte­n Politikers in Bad Iburg geboren wurde, hat selbst früher in Berlin gelebt, vor einem halben Jahr zog er in die jordanisch­e Hauptstadt Amman. Von dort aus hat er die Ereignisse in Berlin mitverfolg­t. »An einem Tag wie diesem«, schrieb er am Morgen des 20. Dezember, »heißt es geduldig sein. Vielleicht wird es sich bestätigen, dass es sich bei dem Fahrer um einen Afghanen oder Pakistaner handelt, der als Flüchtling nach Deutschlan­d einreiste. Vielleicht auch nicht. Aber die Antworten werden kommen, die meisten jedenfalls, die wichtigste­n. Nur eben nicht heute. Wir werden erfahren, ob es ein Anschlag war. Es wird sich herausstel­len, ob der Fahrer aus dschihadis­tischer Motivation gehandelt hat. Der IS wird sich bekennen oder nicht. Und dieses Bekenntnis wird glaubwürdi­g sein oder nicht. Andere Fragen werden vielleicht nie beantworte­t. Den Täter als Person werden wir womöglich nie verstehen. Damit müssen wir dann leben. (...) Es wird Streit geben. Das ist sicher. Davor darf man auch keine Angst haben. Als Bürger nicht. Als Politiker nicht. Aber an einem Tag wie diesem, am Tag danach, wenn man noch kaum etwas weiß, muss man damit noch nicht anfangen.«

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Foto: photocase/Thomas K. Weitere Beiträge finden Sie unter dasND.de/blogwoche

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