Die Pflicht, zu spielen
Die Bundesliga wollte nicht innehalten: Nach dem Anschlag in Berlin trafen die Fußballer von Hertha BSC auf Darmstadt 98
Hertha BSC beendet das Jahr mit einem Sieg gegen Darmstadt und geht als Dritter in die Winterpause. Spiel und Spieler standen noch unter dem Eindruck des Anschlags in Berlin. Polizisten mit Maschinengewehren, schweres Geschütz auf den Straßen und verstärkte Einlasskontrollen – all das sollte ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Ja, nach dem Anschlag vom Montag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz mit zwölf Toten wurde am Mittwochabend im Berliner Olympiastadion Fußball gespielt. Hertha BSC empfing zum Jahresabschluss Darmstadt 98. Dass der Ball rollt, soll ein Zeichen von Stärke sein: Das Leben geht weiter, unsere Freiheit lassen wir uns von Terroristen nicht nehmen.
Wie ein Verzicht auf einen Moment des Innehaltens und der Trauer zum Desaster werden kann, war am 17. November 2015 in Hannover zu erleben gewesen. Nur vier Tage nach den Terroranschlägen in Paris, wo die deutsche Nationalmannschaft gegen Frankreich gespielt hatte, sollte das Länderspiel gegen die Niederlande unter allen Umständen ausgetragen werden. Dann kam anderthalb Stunden vor dem Abpfiff die kurzfristige Absage. Das trug ebenso wenig zur Beruhigung bei wie die nachfolgende Pressekonferenz. »Ein Teil der Antwort würde die Bevölkerung verunsichern.« Mit diesem Satz hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) damals mehr Angst und Schrecken als Ruhe verbreitet.
Den Gedanken an eine Absage äußerte auch nun niemand. Und die Gefahrenlage in Berlin ließ die Austra- gung des Spiels am Mittwoch offenbar zu. Fast 32 000 Zuschauer waren gekommen, für die Verantwortlichen von Hertha BSC eigentlich zu wenig. Zuletzt war das Olympiastadion vor drei Jahren und neun Monaten schlechter besucht, beim Zweitligaspiel gegen den MSV Duisburg. Die Diskussionen über den Neubau eines reinen Fußballstadions werden Verein und Stadt weiterhin beschäftigen.
Angesichts der aktuellen Situation in der Hauptstadt war die Zahl der Besucher erstaunlich. »Berlin bleibt stark«, war auf einem großen Banner in der Ostkurve zu lesen. Vor dem An- Berlins Trainer Pal Dardai über den Umgang seiner Spieler mit dem Anschlag pfiff, während der Schweigeminute für die Opfer vom Breitscheidplatz, erstrahlte der Innenraum des Stadions – erleuchtet von den Smartphones der Zuschauer. Alle, die gekommen waren, setzten ein öffentlichkeitswirksames Zeichen. Und jeder einzelne nutzte den kühlen Mittwochabend wohl auch für sich: der Stadionbesuch als ein Stück Normalität in einer schwierigen Zeit. So lautete zumindest der Tenor unter befragten Fans.
»Der Jubel war ein anderer«, sagte Pal Dardai nach dem Spiel. Seine Berliner Mannschaft hatte nach Toren von Marvin Plattenhardt und Salomon Kalou mit 2:0 gewonnen. Im Vorfeld der Partie hatte der Trainer von Hertha BSC über die Probleme seiner Spieler berichtet. Zur Aufarbeitung des Geschehenen gehörten Gespräche in der Kabine und ein Besuch am Breitscheidplatz. Am Mittwochnachmittag hatten Team, Trainer und Manager Michael Preetz vor der Gedächtniskirche einen Kranz niedergelegt.
Dass Normalität im Umgang mit dem schrecklichen Ereignis vom Montag hilft, hat Dardai schnell gemerkt. »Wenn der Ball kommt, musst du handeln, dann kannst du ein paar Dinge vergessen«, meinte er am Dienstag. Da hatten seine Fußballer gerade das erste Training hinter sich. Ungewissheit vor dem Ernstfall am Mittwochabend war trotzdem geblieben: »Ich weiß nicht, wie es wird«, hatte er mit Blick auf das Duell mit Darmstadt gesagt.
Nach der Partie war Dardai erleichtert. Seine Spieler verglich er mit Kindern, das Spiel mit einer Ablenkung: »Wenn der Ball rollt, sind sie mutiger.« Wirklich mutig wirkten die Berliner Fußballer in den 90 Minuten nicht. In der ersten Halbzeit ließen sie sich von den abgeschlagen am Tabellenende stehenden Darmstädtern sogar den Schneid abkaufen. Die Abwehr wirkte gerade in den ersten 45 Minuten verunsichert, im Spiel nach vorn fehlte die Entschlossenheit. Klare Torchancen hatte Hertha BSC nur nach Standardsituationen. So fielen auch die beiden Treffer: In der 53. Minute zirkelte Marvin Plattenhardt einen Freistoß aus 20 Metern in den Winkel. 13 Minuten später brachte der Linksverteidiger bei einem weiteren Freistoß den Ball in den Darmstädter Strafraum, direkt auf den Kopf von Salomon Kalou, der zum Endstand vollendete. Ein nüchterner Pflichtsieg. Der Bezeichnung Pflichtspiel kam am Mittwochabend noch eine ganz andere Bedeutung zu.
»Wenn der Ball rollt, sind sie mutiger.«