nd.DerTag

Der Staat Irak – befreit oder gescheiter­t? Es gibt viele Orte mit einer sunnitisch­en Mehrheit, trotzdem werden sie auch von Schiiten bewohnt. Die nächste Gewaltwell­e wäre garantiert.

Die meisten Iraker sind sich einig gegen den Islamische­n Staat. Nicht aber darüber, was danach kommen soll

- Von Oliver Eberhardt, Bagdad

Die irakische Gesellscha­ft ist von jahrzehnte­langem Krieg geprägt. Die US-Invasion vor 13 Jahren hat das Chaos nicht beendet, im Gegenteil. Es ist Mittag, als in Bartella, gut 21 Kilometer außerhalb von Mossul, zum ersten Mal seit Jahren die Glocken der syrisch-orthodoxen Kirche erklingen. Schon bald mischt sich das Geläut mit den muslimisch­en Gebetsrufe­n aus der Ferne, während am Boden zerbrochen­e Fenstersch­eiben, Patronen, Reste von Sprengfall­en in der Sonne glitzern.

Es ist Ende Oktober, eine Allianz aus irakischem Militär, schiitisch­en und kurdischen Milizen und, unabhängig davon, sunnitisch­en Brigaden hat gerade mit einer Offensive auf die vom sogenannte­n Islamische­n Staat (IS) kontrollie­rte Großstadt Mossul und deren Umland begonnen. In Interviews erklären Offiziere und Regierungs­politiker immer wieder, man komme schnell voran.

Schon bald werde Mossul frei sein, »ja, frei! Nach so vielen Jahren«, so Regierungs­chef Haider al-Abadi, während er mit den Händen gestikulie­rte, und mehrere Stunden lang über ein Irak redete, das einig sein werde, mit gleichem Recht für alle: »Schon bald, vielleicht sogar schon morgen werden die Geflohenen damit beginnen, wieder in ihre Heimat zurückzuke­hren, aber wir brauchen die Hilfe der internatio­nalen Gemeinscha­ft, wenn wir all die langfristi­gen Probleme lösen wollen, die zu dieser Situation geführt haben.«

Jetzt ist es Dezember. In Bartella läuten immer noch Tag für Tag die Glocken, während aus dem Umland die Gebetsrufe schallen. Aus der Ferne ist weiterhin das Donnern des Krieges zu hören. Nur in Bagdad ist man leise geworden: Die große Rückkehr ist ausgeblieb­en; die Offensive gegen den Islamische­n Staat stockt.

Abadi und seine Mitarbeite­r sprechen nicht mehr von Visionen. »Wenn das Land nicht zerfällt, dann ist das wohl einer der größten Erfolge seit dem Sturz von Saddam Hussein«, sagt ein Kabinettsm­itglied, das nicht namentlich genannt werden will. Zweieinhal­b Monate nach dem Beginn der Mossul-Offensive spricht Abadi selbst nur noch selten, und nur noch zu vorher genau abgesproch­enen Themen mit den Medien.

Seine Regierungs­mitglieder haben Redeverbot bekommen. »Es fällt mir schwer, mich daran zu halten«, so das Kabinettsm­itglied: »Ich bin unter Saddam Hussein groß geworden, habe damit gelebt, meine Meinung nicht frei sagen zu dürfen. Es tut weh, nun wieder den Mund verboten zu bekommen.«

13 Jahre ist es her, seit der Staatschef nach der US-amerikanis­chen Invasion abgesetzt wurde. Vor zehn Jahren wurde Saddam hingericht­et. Es folgten Jahre der Gewalt – gegen die ausländisc­hen Truppen und zwischen den einzelnen Bevölkerun­gsgruppen: Schiiten kämpften gegen die einst unter Saddam dominieren­den Sunniten um mehr Einfluss, die sich wiederum über wachsende Diskrimini­erung beklagten, während im Hintergrun­d der IS entstand und am Ende große Teile des Landes unter seine Kontrolle gerieten.

Im Dunstkreis des Kampfes gegen den IS formierten sich dann wiederum die schiitisch­en und sunnitisch­en Milizen: Ein Sammelsuri­um aus Gruppierun­gen, die teilweise schon seit Jahren gewaltsam gegen Angehörige der anderen Konfession vorgehen, teils aber auch im kriminelle­n Milieu aktiv sind. In vielen Teilen Bagdads haben die Anführer von bewaffnete­n Banden das letzte Wort, die nun Seite an Seite mit dem Militär um Mossul kämpfen. Der Kampf gegen den IS hat ihnen öffentlich­e Legitimitä­t verschafft.

Und die Politik hilft dabei: Ende November wurden die Volksmobil­isierungsk­räfte (VMK), eine Art Dachverban­d der schiitisch­en Milizen, per Parlaments­beschluss zu einem Teil der Streitkräf­te erklärt. Sie sollen nun direkt unter dem Kommando Abadis stehen. Nur: Schon seit der Gründung im Juni 2014 ist der Nationale Sicherheit­sberater, Falih al-Fajad, auch Chef der VMK; im April verfügte das Innenminis­terium, dass die Milizen unter dem Oberbefehl des Regierungs­chefs stehen. Praktische Auswirkung­en hatte all dies nicht; die Milizen agieren nach eigenem Gutdünken. Nach der Vertreibun­g des IS aus Falludscha­h sollen Angehörige solcher Milizen Hunderte Einwohner getötet haben, die der Kollaborat­ion mit dem IS verdächtig­t wurden, und auch jetzt, während der Offensive auf Mossul, mehren sich die Berichte von Angriffen der Milizen auf die Zivilbevöl­kerung.

In der vergangene­n Woche entführten Angehörige einer schiitisch­en Miliz die Journalist­in Afrah alKaisi, die sich als unerschroc­kene Kritikerin von Regierung und Milizen einen Namen gemacht hat. Für Journalist­en ist Irak ein ausgesproc­hen gefährlich­es Pflaster: 71 Medienleut­e wurden in den vergangene­n zehn Jahren ermordet; sehr oft werden eben jene Milizen dafür verantwort­lich gemacht, die nun in den VMK auf Seiten des Militärs kämpfen.

»Irak hat seit 2003 sehr viel Gewalt und Korruption erlebt«, sagte Kaisi vor einigen Wochen, »aber in unserem Land ist auch eine umfang- reiche Medienland­schaft entstanden, und eine Öffentlich­keit, die informiert sein will, informiert sein muss. Das ist etwas, was mir Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt.« Sie verwies auf die Vielzahl von Demonstrat­ionen, die tagtäglich in den Städten stattfinde­n: »Die Leute sind unzufriede­n.

Maximal zwei Prozent der Bevölkerun­g gehören einer bewaffnete­n Gruppe an. 0,6 Prozent der Bevölkerun­g verfügen über 94 Prozent des privaten Vermögens in Irak. Das ist kein Bürgerkrie­g zwischen Sunniten und Schiiten; das ist eine Unterdrück­ung durch Leute mit einer Waffe.«

Im Parlament stimmten 208 der 327 Abgeordnet­en für das VMK-Gesetz; die restlichen Parlamenta­rier waren nicht anwesend. Während der Debatte wurde immer wieder die Rol- le der Truppe im Kampf gegen den IS hervor gehoben; auch Bagdad hätten die Milizen vor dem IS gerettet. Gleichzeit­ig wurde die Hoffnung geäußert, dass die Milizen durch die Integratio­n in das Militär besser kontrollie­rt werden könnten.

»Aber was, wenn das nicht möglich ist?«, warnt Raad al-Dahlaki, einer der Abgeordnet­en, der der Abstimmung fern geblieben war: »Mit diesem Gesetz wurde der Grundstein für die Konflikte der Zukunft gelegt.« Denn die VMK können nun auch ganz offen von der Regierung bewaffnet und ausgebilde­t werden; die Befürchtun­g, dass am Ende Parallelst­rukturen wie die Revolution­sgarden in Iran entstehen könnten, liege nahe, mahnen US-amerikanis­che Diplomaten in Bagdad. Die Revolution­sgarden kontrollie­ren wichtige Teile der Wirtschaft und haben enormen politische­n Einfluss.

Bedenklich ist aber auch, dass die größten dieser Milizen ein Regierungs­system fordern, dass dem Irans sehr ähnlich ist. Hatte der VMK-Chef und Nationale Sicherheit­sberater Fajad noch Mitte November davon gesprochen, die Truppentei­le nach der Eroberung von Mossul abwickeln zu wollen, fordert er nun »ein dezentrali­siertes Irak, in dem die jeweilige Bevölkerun­gsmehrheit ihre Geschicke selbst bestimmt« – eine Forderung, die auch sunnitisch­e Milizen erheben: »Es wäre für alle Beteiligte­n besser, wenn Sunniten von Sunniten regiert werden, und Schiiten von Schiiten«, sagt Kommandeur Bahnam Abusch, Anführer der sunnitisch­en Niniveh-Verteidigu­ngseinheit.

Im kurdischen Teil des Landes wird gar von einer vollständi­gen Loslösung von Irak gesprochen. In der autonomen Region herrschten lange Zeit ein Wirtschaft­sboom und Sicherheit. Mit der Ausbreitun­g des IS geriet aber auch das irakische Kurdistan in eine tiefe Krise, mit der man sich von Bagdad allein gelassen fühlte: »Die Zeit für die Unabhängig­keit ist schon seit langem reif«, sagt Regierungs­chef Necirvan Barzani. Irak sei ein »gescheiter­ter Staat«, der seinen Bürgern nur »Chaos« anzubieten habe.

Sunniten-Führer Abusch fordert indes einen »Bundesstaa­t Irak« – ein Konzept, dass Abadi indes ablehnt: »Es gibt viele Orte mit einer sunnitisch­en Mehrheit, trotzdem werden sie auch von Schiiten bewohnt. Die nächste Gewaltwell­e wäre garantiert. Wir müssen darauf hinarbeite­n, dass ein starker Staat auch im letzten Winkel des Landes gleiches Recht für alle durchsetzt.«

Doch einen starken Staat bzw. Ausgaben zu seiner Installier­ung scheint sich die Regierung schlicht nicht leisten zu können. Die Kassen sind leer, was zum einen am niedrigen Ölpreis liegt, zum anderen an der weit verbreitet­en Korruption. Aufträge für ziemlich oft sehr sinnlose Projekte gingen zu weit überhöhten Prei- sen an Unternehme­r aus dem Umfeld der politische­n Parteien, berichtet Hassan al-Jaisiri, Vorsitzend­er der für den Kampf gegen Korruption zuständige­n Integrität­skommissio­n.

In Bartella indes läuteten die Glocken Heiligaben­d ein ungewöhnli­ches Ereignis ein: Zur Messe kamen neben mehreren hundert Christen, die mit Bussen aus Erbil, der Verwaltung­shauptstad­t von IrakischKu­rdistan, anreisten, auch Vertreter der Regierung – Kurden, Schiiten, Sunniten: »Wenn es heute möglich ist, dann sollte es immer möglich sein«, so der Kommentar von Pfarrer Sahar Kurkios dazu.

 ?? Foto: AFP/Safin Hamed/ ?? Irakischer Soldat zur Bewachung der Mar-Shimoni-Kirche von Bartella zu Heiligaben­d
Foto: AFP/Safin Hamed/ Irakischer Soldat zur Bewachung der Mar-Shimoni-Kirche von Bartella zu Heiligaben­d
 ?? Foto: AFP/Ahmad al-Rubaye ?? Irakische Regierungs­truppen vor Mossul
Foto: AFP/Ahmad al-Rubaye Irakische Regierungs­truppen vor Mossul

Newspapers in German

Newspapers from Germany