Der Staat Irak – befreit oder gescheitert? Es gibt viele Orte mit einer sunnitischen Mehrheit, trotzdem werden sie auch von Schiiten bewohnt. Die nächste Gewaltwelle wäre garantiert.
Die meisten Iraker sind sich einig gegen den Islamischen Staat. Nicht aber darüber, was danach kommen soll
Die irakische Gesellschaft ist von jahrzehntelangem Krieg geprägt. Die US-Invasion vor 13 Jahren hat das Chaos nicht beendet, im Gegenteil. Es ist Mittag, als in Bartella, gut 21 Kilometer außerhalb von Mossul, zum ersten Mal seit Jahren die Glocken der syrisch-orthodoxen Kirche erklingen. Schon bald mischt sich das Geläut mit den muslimischen Gebetsrufen aus der Ferne, während am Boden zerbrochene Fensterscheiben, Patronen, Reste von Sprengfallen in der Sonne glitzern.
Es ist Ende Oktober, eine Allianz aus irakischem Militär, schiitischen und kurdischen Milizen und, unabhängig davon, sunnitischen Brigaden hat gerade mit einer Offensive auf die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) kontrollierte Großstadt Mossul und deren Umland begonnen. In Interviews erklären Offiziere und Regierungspolitiker immer wieder, man komme schnell voran.
Schon bald werde Mossul frei sein, »ja, frei! Nach so vielen Jahren«, so Regierungschef Haider al-Abadi, während er mit den Händen gestikulierte, und mehrere Stunden lang über ein Irak redete, das einig sein werde, mit gleichem Recht für alle: »Schon bald, vielleicht sogar schon morgen werden die Geflohenen damit beginnen, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, aber wir brauchen die Hilfe der internationalen Gemeinschaft, wenn wir all die langfristigen Probleme lösen wollen, die zu dieser Situation geführt haben.«
Jetzt ist es Dezember. In Bartella läuten immer noch Tag für Tag die Glocken, während aus dem Umland die Gebetsrufe schallen. Aus der Ferne ist weiterhin das Donnern des Krieges zu hören. Nur in Bagdad ist man leise geworden: Die große Rückkehr ist ausgeblieben; die Offensive gegen den Islamischen Staat stockt.
Abadi und seine Mitarbeiter sprechen nicht mehr von Visionen. »Wenn das Land nicht zerfällt, dann ist das wohl einer der größten Erfolge seit dem Sturz von Saddam Hussein«, sagt ein Kabinettsmitglied, das nicht namentlich genannt werden will. Zweieinhalb Monate nach dem Beginn der Mossul-Offensive spricht Abadi selbst nur noch selten, und nur noch zu vorher genau abgesprochenen Themen mit den Medien.
Seine Regierungsmitglieder haben Redeverbot bekommen. »Es fällt mir schwer, mich daran zu halten«, so das Kabinettsmitglied: »Ich bin unter Saddam Hussein groß geworden, habe damit gelebt, meine Meinung nicht frei sagen zu dürfen. Es tut weh, nun wieder den Mund verboten zu bekommen.«
13 Jahre ist es her, seit der Staatschef nach der US-amerikanischen Invasion abgesetzt wurde. Vor zehn Jahren wurde Saddam hingerichtet. Es folgten Jahre der Gewalt – gegen die ausländischen Truppen und zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen: Schiiten kämpften gegen die einst unter Saddam dominierenden Sunniten um mehr Einfluss, die sich wiederum über wachsende Diskriminierung beklagten, während im Hintergrund der IS entstand und am Ende große Teile des Landes unter seine Kontrolle gerieten.
Im Dunstkreis des Kampfes gegen den IS formierten sich dann wiederum die schiitischen und sunnitischen Milizen: Ein Sammelsurium aus Gruppierungen, die teilweise schon seit Jahren gewaltsam gegen Angehörige der anderen Konfession vorgehen, teils aber auch im kriminellen Milieu aktiv sind. In vielen Teilen Bagdads haben die Anführer von bewaffneten Banden das letzte Wort, die nun Seite an Seite mit dem Militär um Mossul kämpfen. Der Kampf gegen den IS hat ihnen öffentliche Legitimität verschafft.
Und die Politik hilft dabei: Ende November wurden die Volksmobilisierungskräfte (VMK), eine Art Dachverband der schiitischen Milizen, per Parlamentsbeschluss zu einem Teil der Streitkräfte erklärt. Sie sollen nun direkt unter dem Kommando Abadis stehen. Nur: Schon seit der Gründung im Juni 2014 ist der Nationale Sicherheitsberater, Falih al-Fajad, auch Chef der VMK; im April verfügte das Innenministerium, dass die Milizen unter dem Oberbefehl des Regierungschefs stehen. Praktische Auswirkungen hatte all dies nicht; die Milizen agieren nach eigenem Gutdünken. Nach der Vertreibung des IS aus Falludschah sollen Angehörige solcher Milizen Hunderte Einwohner getötet haben, die der Kollaboration mit dem IS verdächtigt wurden, und auch jetzt, während der Offensive auf Mossul, mehren sich die Berichte von Angriffen der Milizen auf die Zivilbevölkerung.
In der vergangenen Woche entführten Angehörige einer schiitischen Miliz die Journalistin Afrah alKaisi, die sich als unerschrockene Kritikerin von Regierung und Milizen einen Namen gemacht hat. Für Journalisten ist Irak ein ausgesprochen gefährliches Pflaster: 71 Medienleute wurden in den vergangenen zehn Jahren ermordet; sehr oft werden eben jene Milizen dafür verantwortlich gemacht, die nun in den VMK auf Seiten des Militärs kämpfen.
»Irak hat seit 2003 sehr viel Gewalt und Korruption erlebt«, sagte Kaisi vor einigen Wochen, »aber in unserem Land ist auch eine umfang- reiche Medienlandschaft entstanden, und eine Öffentlichkeit, die informiert sein will, informiert sein muss. Das ist etwas, was mir Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt.« Sie verwies auf die Vielzahl von Demonstrationen, die tagtäglich in den Städten stattfinden: »Die Leute sind unzufrieden.
Maximal zwei Prozent der Bevölkerung gehören einer bewaffneten Gruppe an. 0,6 Prozent der Bevölkerung verfügen über 94 Prozent des privaten Vermögens in Irak. Das ist kein Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten; das ist eine Unterdrückung durch Leute mit einer Waffe.«
Im Parlament stimmten 208 der 327 Abgeordneten für das VMK-Gesetz; die restlichen Parlamentarier waren nicht anwesend. Während der Debatte wurde immer wieder die Rol- le der Truppe im Kampf gegen den IS hervor gehoben; auch Bagdad hätten die Milizen vor dem IS gerettet. Gleichzeitig wurde die Hoffnung geäußert, dass die Milizen durch die Integration in das Militär besser kontrolliert werden könnten.
»Aber was, wenn das nicht möglich ist?«, warnt Raad al-Dahlaki, einer der Abgeordneten, der der Abstimmung fern geblieben war: »Mit diesem Gesetz wurde der Grundstein für die Konflikte der Zukunft gelegt.« Denn die VMK können nun auch ganz offen von der Regierung bewaffnet und ausgebildet werden; die Befürchtung, dass am Ende Parallelstrukturen wie die Revolutionsgarden in Iran entstehen könnten, liege nahe, mahnen US-amerikanische Diplomaten in Bagdad. Die Revolutionsgarden kontrollieren wichtige Teile der Wirtschaft und haben enormen politischen Einfluss.
Bedenklich ist aber auch, dass die größten dieser Milizen ein Regierungssystem fordern, dass dem Irans sehr ähnlich ist. Hatte der VMK-Chef und Nationale Sicherheitsberater Fajad noch Mitte November davon gesprochen, die Truppenteile nach der Eroberung von Mossul abwickeln zu wollen, fordert er nun »ein dezentralisiertes Irak, in dem die jeweilige Bevölkerungsmehrheit ihre Geschicke selbst bestimmt« – eine Forderung, die auch sunnitische Milizen erheben: »Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn Sunniten von Sunniten regiert werden, und Schiiten von Schiiten«, sagt Kommandeur Bahnam Abusch, Anführer der sunnitischen Niniveh-Verteidigungseinheit.
Im kurdischen Teil des Landes wird gar von einer vollständigen Loslösung von Irak gesprochen. In der autonomen Region herrschten lange Zeit ein Wirtschaftsboom und Sicherheit. Mit der Ausbreitung des IS geriet aber auch das irakische Kurdistan in eine tiefe Krise, mit der man sich von Bagdad allein gelassen fühlte: »Die Zeit für die Unabhängigkeit ist schon seit langem reif«, sagt Regierungschef Necirvan Barzani. Irak sei ein »gescheiterter Staat«, der seinen Bürgern nur »Chaos« anzubieten habe.
Sunniten-Führer Abusch fordert indes einen »Bundesstaat Irak« – ein Konzept, dass Abadi indes ablehnt: »Es gibt viele Orte mit einer sunnitischen Mehrheit, trotzdem werden sie auch von Schiiten bewohnt. Die nächste Gewaltwelle wäre garantiert. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass ein starker Staat auch im letzten Winkel des Landes gleiches Recht für alle durchsetzt.«
Doch einen starken Staat bzw. Ausgaben zu seiner Installierung scheint sich die Regierung schlicht nicht leisten zu können. Die Kassen sind leer, was zum einen am niedrigen Ölpreis liegt, zum anderen an der weit verbreiteten Korruption. Aufträge für ziemlich oft sehr sinnlose Projekte gingen zu weit überhöhten Prei- sen an Unternehmer aus dem Umfeld der politischen Parteien, berichtet Hassan al-Jaisiri, Vorsitzender der für den Kampf gegen Korruption zuständigen Integritätskommission.
In Bartella indes läuteten die Glocken Heiligabend ein ungewöhnliches Ereignis ein: Zur Messe kamen neben mehreren hundert Christen, die mit Bussen aus Erbil, der Verwaltungshauptstadt von IrakischKurdistan, anreisten, auch Vertreter der Regierung – Kurden, Schiiten, Sunniten: »Wenn es heute möglich ist, dann sollte es immer möglich sein«, so der Kommentar von Pfarrer Sahar Kurkios dazu.