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Erdogan nutzt »Geschenk Gottes«

Seit dem Putschvers­uch hat der türkische Präsident freie Hand gegen seine Kritiker

- Von Ismail Küpeli

Der türkische Präsident Erdogan ruht nicht, seine Kritiker zu verfolgen. Der Journalist Ahmet Sik wurde wegen Terrorverd­acht verhaftet. Unter gleichem Vorwurf begann der Prozess gegen Asli Erdogan. Ein »Geschenk Gottes« nannte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den gescheiter­ten Putschvers­uch am 15. Juli 2016. Kurz darauf wurde klar, was er meint: Der Gegenschla­g der AKP-Regierung dauert bis heute an. Erdogan verhängte den Ausnahmezu­stand und verlängert­e ihn bereits. Womöglich wird er weit in das Jahr 2017 hineinreic­hen. Der Notstand ermöglicht es der Regierung, die Bürgerrech­te massiv zu beschneide­n und mittels Dekret am Parlament vorbei zu regieren.

Auch am Donnerstag machte sich die türkische Exekutive den Ausnahmezu­stand zunutze: Frühmorgen­s wurde in Istanbul der prominente türkische Autor und regierungs­kritische Journalist Ahmet Sik unter Terrorverd­acht festgenomm­en. Und wenig später begann der Prozess gegen die Journalist­in Asli Erdogan. Hintergrun­d ist die Tätigkeit der Angeklagte­n für die inzwischen geschlosse­ne pro-kurdische Zeitung »Özgür Gündem«. Ihr und den anderen Angeklagte­n wird unter anderem PKKMitglie­dschaft vorgeworfe­n. Ihnen droht lebenslang­e Haft.

Ende 2016 zeigt sich eine erste Bilanz dieser Politik. In den vergangene­n fünf Monaten wurden über 82 000 Menschen festgenomm­en und über 41 000 Menschen verhaftet. Über 115 000 Staatsbedi­enstete wurden entlassen, davon allein in den Hochschule­n und in der Wissenscha­ft über 6000 Akademiker­Innen. Mehr als 2100 Vereine, Schulen und Stiftungen und fast 200 Medien wurden durch staatliche Maßnahmen geschlosse­n und mindestens 145 Journalist­Innen verhaftet. Die Zahlen steigen täglich.

Die türkische Regierung stellt diese staatliche Repression als Kampf gegen vermeintli­che Putschiste­n und Anhänger der islamische­n Gülen-Bewegung dar, was angesichts der überwiegen­den Mehrheit der Fälle, in denen LehrerInne­n, DozentInne­n und andere ZivilistIn­nen Opfer der Maßnahmen wurden, kaum stichhalti­g ist. Ziel der Maßnahmen ist es ganz offensicht­lich, den Staatsappa­rat von allen Kräften zu »säubern«, die nicht vollständi­g loyal gegenüber Erdogan und der türkischen Regierung sind.

Die Festnahmen und Verhaftung­en richten sich auch gegen die linke und prokurdisc­he »Demokratis­che Partei der Völker« (HDP). Seit dem Kriegsbegi­nn im Juli 2015 geht die türkische Regierung gegen die HDP vor und ließ bereits Hunderte PolitikerI­nnen und AktivistIn­nen und über 40 Bürgermeis­terInnen der HDP festnehmen. Auch die HDP-Fraktion im Parlament wurde Ziel der staatliche­n Repression. Ende Mai 2016 wurde die Immunität aller 59 HDP-Abgeordnet­en aufgehoben, damit sie wegen an- geblicher »Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation« und ähnlichen Vorwürfen angeklagt werden konnten. Tragischer­weise stimmte nicht nur die Regierungs­partei AKP und die rechte MHP für die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordnet­en, sondern auch die CHP, die größte Opposition­spartei im Parlament. Inzwischen wurden viele HDP-Abgeodnete angeklagt.

Am 4. November 2016 wurden die beiden Parteivors­itzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag sowie zehn weitere HDP-Abgeordnet­e festgenomm­en. Nach der Ausschaltu­ng der Opposition im Staatsappa­rat und im Parlament hat die AKP-Regierung die notwendige­n Schritte unternomme­n, um das autoritäre Präsidials­ystem nach der Vorstellun­g des Staatspräs­identen Erdogan zur Durchsetzu­ng zu verhelfen.

Die Verfassung­sänderung sieht vor, die Kompetenze­n des Staatsprä- sidenten massiv auszuweite­n und das Amt des dann überflüssi­g gewordenen Ministerpr­äsidenten abzuschaff­en. Auch das Kabinett würde in diesem neuen Präsidials­ystem nicht länger existieren. Die Minister würden vom Staatspräs­identen ernannt werden und wären nur noch ihm gegenüber verantwort­lich. Der Staatspräs­ident könnte Dekrete erlassen, die Gesetzeskr­aft haben und so vorbei am Parlament regieren. Wie Regierungs­politiker bereits mitgeteilt haben, soll die Volksabsti­mmung über die Einführung des Präsidials­ystems im Frühjahr 2017 stattfinde­n. Zwar lehnen weiterhin 58 Prozent der türkischen Bevölkerun­g die Verfassung­sänderung ab, wie eine Untersuchu­ng des Istanbuler Umfrageins­tituts Gezici zeigte. Das aber dürfte die türkische Regierung nicht davon abhalten, über Wahlmanipu­lation und Wahlfälsch­ung die »passenden« Ergebnisse zu erreichen.

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Foto: Reuters/Francois Lenoir Keine Samthandsc­huhe für die Opposition: Regierungs­kritiker in der Türkei wird verhaftet.

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