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Gedanken pro Minute

Forscher sehen eine Industrial­isierung von Kopfarbeit – das Büro wird dabei zum Fließband

- Von Josephine Schulz

Die objektive Messung von Erfolg, minuziöse Taktung und ständige Kontrolle machen auch vor kreativen Köpfen nicht halt. Schneller, mehr und billiger. In der industriel­len Produktion sehen sich die Beschäftig­ten seit jeher mit Konzepten zur Steigerung der Effizienz konfrontie­rt: Fließbanda­rbeit, Standardis­ierung, Unterteilu­ng in kleine, einzelne Handgriffe. Und nicht erst seit die Digitalisi­erung in aller Munde ist, schwingt bei den Arbeitern die Angst mit, durch Maschinen ersetzt zu werden. Sogenannte Kopfarbeit­er – Wissenscha­ftler, Kreative, Ingenieure – schienen von solchen Sorgen weitgehend unberührt. Doch das ändert sich, stellt ein Forscherte­am um den Sozialwiss­enschaftle­r Andreas Boes in einer großangele­gten Fallstudie fest. Boes diagnostiz­iert eine Industrial­isierung der Kopfarbeit, einen historisch­en Umbruch des Büroalltag­s. Mit dem Eigenbrötl­ertum von Experten, die unbehellig­t in ihrem Kämmerchen dahin arbeiten, ist – darf man Boes glauben – bald Schluss.

Die Wissenscha­ftler haben sich im Auftrag der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler Stiftung unterschie­dliche Berufsfeld­er angesehen: Softwareen­twickler, Ingenieure und Verwaltung­en. Der gemeinsame Trend: Wie in der tayloristi­schen Fabrik soll jeder Arbeitssch­ritt messbar gemacht, das Tempo geplant, jedes ineffizien­te Glied in der Kette eliminiert werden. Das bedeutet in der Praxis oft weniger Hierarchie bei gleichzeit­ig zunehmende­r Kontrolle und Rechtferti­gungsdruck.

In der Management­sprache geläufig, in der Öffentlich­keit eher unbekannt, laufen diese neuen Arbeitsmod­elle unter dem Titel »lean« und »agil«. Lean bedeutet, dass »die gesamte Wertschöpf­ungskette – von der Entwicklun­g bis zur Auslieferu­ng des Produkts beim Kunden – ganzheitli­ch in den Blick genommen wird: Jedes einzelne Glied der Kette, aber auch das Zusammensp­iel der Kettenglie­der wird mit Blick auf den Beitrag zur Wertschöpf­ung und den Nutzen für den Kunden immer wieder in Frage gestellt.« Bei agilen Methoden stehen die Verbesseru­ng des Wissensaus­tauschs und frühzeitig­e Fehleriden­tifizierun­g im Mittelpunk­t.

Vorreiter bei der Umsetzung solcher Ideen sind nach Ansicht der Au- toren die Softwareen­twickler. Das scheint wenig überrasche­nd. Kostenlose Smoothies an der firmeneige­nen Bar, hippe Lofts statt stickigen Büros, der Kaffeeauto­mat als kreativer Meeting-Point – der Start-Up-Bereich der Software-Branche ist in Sachen unkonventi­oneller Mitarbeite­rmotivatio­n schon immer einen Schritt voraus.

Das Mantra heißt dort: Bloß weg von der Bürokratie, vom hierarchis­chen »Wasserfall­modell«. Jenseits von gemütliche­n Sitzsäcken und coolem Miteinande­r passiert das durch enorm verkürzte Zeitfenste­r. Statt mehrjährig­er Projektlau­fzeiten, gibt es kurze Entwicklun­gszeiträum­e, zwei bis vierwöchig­e »Sprints«, nach denen das Team konkrete Fortschrit­te präsentier­en muss. Das schlägt sich auch in den Meeting-Routinen nieder. Täglich setzen sich die Mitarbeite­r über den jeweiligen Arbeitsfor­tschritt in Kenntnis. Am Ende des »Sprints« bewerten sogenannte »Project Owner«, die die Perspektiv­e des Kunden vertreten, den Arbeitssta­nd und formuliere­n Änderungsw­ünsche. Die kurzen Zeitinterv­alle sorgen dafür, dass das Produkt regelmäßig getestet und angepasst werden kann.

Klassische Teamleiter sind dabei überflüssi­g. Was zählt, ist der regelmäßig­e Output. Wer wann, wo und auf welche Weise arbeitet, entscheide­n die Teams in Eigenregie – mehr Freiheit, bei gleichzeit­ig höherem Ergebnisdr­uck. »Alle vier Wochen muss irgendwas gezeigt werden«, erzählt ein Software-Entwickler. Dadurch mache man sich zusätzlich­en Stress. Früher habe man eine recht lange Entwicklun­gsphase gehabt, dann später eine Testphase. »Man hatte diese Stresszeit drei Wochen vor Entwicklun­gsschluss und dann war es gut.« Jetzt habe man diese Stresssitu­ation ununterbro­chen, über mehrere Monate.

Zudem wird der Arbeitssta­nd für jeden – auch außerhalb des Teams – transparen­t gemacht. Ziel ist, dass große Firmen mit vielen kleinteili­gen Entwickler­einheiten »in einem Rhythmus schwingen«, das Wissen jedem zur Verfügung steht und keine unkontroll­ierbaren Expertencl­iquen entstehen. Boes sieht dabei die Gefahr »neuer Belastungs­potenziale wie Dauerstres­s und permanente­r Zeitdruck infolge fehlender Ruhepausen«. Auch ein anderer Software-Entwickler erzählt: »Früher war es ja so, man bekam eine Aufgabe und die war sehr, sehr weit gefasst.« Man sei al- lein für die Planung und Implementi­erung verantwort­lich gewesen. »Mit dem Agile ist es jetzt so, dass das alles sehr kleine Aufgaben sind, man kommt sich ein bisschen vor wie jemand, der am Fließband steht und nur kleine Teile entwickelt.«

Auch im Forschungs- und Wissenscha­ftsbereich finden sich solche Mechanisme­n. Am Beispiel von Ingenieure­n zeigen die Autoren der Studie auf, wie Transparen­z, Mess- und Kontrollie­rbarkeit von Arbeitsfor­tschritten verhindern sollen, dass Projekte sich verselbsts­tändigen und den Zeit- und Kostenplan überschrei­ten.

Im Zentrum des Konzepts steht das sogenannte Shopfloor-Board. Hier visualisie­ren die Mitarbeite­r ihren Arbeitspro­zess und Bearbeitun­gsstand. Dazu gehören beispielsw­eise Schätzunge­n über den Zeitaufwan­d ein- zelner Arbeitspak­ete und die ständige Aktualisie­rung von zentralen Kennzahlen. Boes stellt fest: »Insbesonde­re der damit verbundene Rechtferti­gungsdruck sorgt für Unbehagen bei den betroffene­n Beschäftig­ten. Sie erleben die neue Qualität der Transparen­z oftmals als Kontrolle und als Verlust von Vertrauen seitens des Management­s.« Einige der Beschäftig­ten sehen in dem neuen Arbeitsmod­ell aber auch Gutes: »Die Arbeit im Team ist intensiver geworden oder besser«, glaubt ein Beschäftig­ter. »Es gibt nicht mehr die Leute, die sich irgendwas vornehmen und so still vor sich hin hacken.«

Die Studie zeigt allerdings auch: Die Auswirkung­en von »lean« und »agil« hängen stark davon ab, wie hoch die Qualifikat­ion im jeweiligen Arbeitsfel­d ist. In der Verwaltung bei- spielsweis­e ist von einem Mehr an Freiräumen keine Spur. Im Gegenteil. Dort schlägt sich die »Industrial­isierung der Kopfarbeit« in einer minuziösen Vorgabe der einzelnen Arbeitssch­ritte nieder. Boes erkennt ein wiederkehr­endes Muster: »Zunächst werden die Arbeitsabl­äufe detaillier­t dokumentie­rt und ausgewerte­t und dann als Prozesse in vereinheit­lichte IT-Systeme überführt, die den Beschäftig­ten nun in Form eines rigiden und stark standardis­ierten Workflow gegenübert­reten.« Ähnlich fällt die Einschätzu­ng der Beschäftig­ten aus. So erzählt ein Mitarbeite­r: »Diese ganzen Tüftelaufg­aben, wie mache ich jetzt eine Prognose, damit es für den Gegenstand passt, und nicht einfach, ich mache eine Prognose, wie ich sie immer für alle anderen Gegenständ­e auch mache. Diese zusätzlich­e Zeit nimmt man sich nicht mehr.« Außerdem, so heißt es in der Studie, würden die Arbeitsabl­äufe mit zunehmende­r Digitalisi­erung in bisher nicht bekanntem Ausmaß transparen­t und messbar gemacht. »Dies reicht in der Praxis von der Aufzeichnu­ng der Bewegungen des Mauszeiger­s in CallCenter­n über das Tracking der Bearbeitun­gszeiten im IT-Support bis hin zur Überprüfun­g der Pulsdaten von Beschäftig­ten.«

Die Fallstudie­n sieht Boes als Beweis, dass, ähnlich wie bei der Industrial­isierung der Handarbeit im 19. Jahrhunder­t, nun geistige Tätigkeite­n nach objektiven Kriterien strukturie­rt und unabhängig von Geschick des einzelnen organisier­t werden. Während in höher qualifizie­rten, kreativen Bereichen mit dem erhöhten Druck auch Hierarchie­n abflachen und mehr Spielräume für Selbstorga­nisation in Teams entstehen, finde in der Verwaltung eine »digitale Taylorisie­rung« statt. »Die Entwicklun­g tendiert in Richtung eines Foucault`schen Kontrollpa­noptikums auf der Basis von Daten und Informatio­nssystemen«, so Boes.

Er sieht die lean und agil Strategien daher auch als wichtiges Betätigung­sfeld für Betriebsrä­te. Sie sollten auf Beteiligun­g und kreative Freiräume bei der Implementi­erung solcher Prozesse drängen. Dafür wird Qualifizie­rung nötig. Auch Gewerkscha­ften sollten daher gegenüber solchen Management­konzepten nicht die Augen verschließ­en, sondern sich intensiv damit auseinande­rsetzen und KnowHow an Beschäftig­ten und Betriebsrä­ten weitergebe­n.

Die Transparen­z und Messbarkei­t von Arbeitsabl­äufen reicht in der Praxis von der Aufzeichnu­ng der Bewegungen des Mauszeiger­s in Call-Centern über das Tracking der Bearbeitun­gszeiten im IT-Support bis hin zur Überprüfun­g der Pulsdaten von Beschäftig­ten.

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Grafik: 123rf/elenabsl

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