Gedanken pro Minute
Forscher sehen eine Industrialisierung von Kopfarbeit – das Büro wird dabei zum Fließband
Die objektive Messung von Erfolg, minuziöse Taktung und ständige Kontrolle machen auch vor kreativen Köpfen nicht halt. Schneller, mehr und billiger. In der industriellen Produktion sehen sich die Beschäftigten seit jeher mit Konzepten zur Steigerung der Effizienz konfrontiert: Fließbandarbeit, Standardisierung, Unterteilung in kleine, einzelne Handgriffe. Und nicht erst seit die Digitalisierung in aller Munde ist, schwingt bei den Arbeitern die Angst mit, durch Maschinen ersetzt zu werden. Sogenannte Kopfarbeiter – Wissenschaftler, Kreative, Ingenieure – schienen von solchen Sorgen weitgehend unberührt. Doch das ändert sich, stellt ein Forscherteam um den Sozialwissenschaftler Andreas Boes in einer großangelegten Fallstudie fest. Boes diagnostiziert eine Industrialisierung der Kopfarbeit, einen historischen Umbruch des Büroalltags. Mit dem Eigenbrötlertum von Experten, die unbehelligt in ihrem Kämmerchen dahin arbeiten, ist – darf man Boes glauben – bald Schluss.
Die Wissenschaftler haben sich im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler Stiftung unterschiedliche Berufsfelder angesehen: Softwareentwickler, Ingenieure und Verwaltungen. Der gemeinsame Trend: Wie in der tayloristischen Fabrik soll jeder Arbeitsschritt messbar gemacht, das Tempo geplant, jedes ineffiziente Glied in der Kette eliminiert werden. Das bedeutet in der Praxis oft weniger Hierarchie bei gleichzeitig zunehmender Kontrolle und Rechtfertigungsdruck.
In der Managementsprache geläufig, in der Öffentlichkeit eher unbekannt, laufen diese neuen Arbeitsmodelle unter dem Titel »lean« und »agil«. Lean bedeutet, dass »die gesamte Wertschöpfungskette – von der Entwicklung bis zur Auslieferung des Produkts beim Kunden – ganzheitlich in den Blick genommen wird: Jedes einzelne Glied der Kette, aber auch das Zusammenspiel der Kettenglieder wird mit Blick auf den Beitrag zur Wertschöpfung und den Nutzen für den Kunden immer wieder in Frage gestellt.« Bei agilen Methoden stehen die Verbesserung des Wissensaustauschs und frühzeitige Fehleridentifizierung im Mittelpunkt.
Vorreiter bei der Umsetzung solcher Ideen sind nach Ansicht der Au- toren die Softwareentwickler. Das scheint wenig überraschend. Kostenlose Smoothies an der firmeneigenen Bar, hippe Lofts statt stickigen Büros, der Kaffeeautomat als kreativer Meeting-Point – der Start-Up-Bereich der Software-Branche ist in Sachen unkonventioneller Mitarbeitermotivation schon immer einen Schritt voraus.
Das Mantra heißt dort: Bloß weg von der Bürokratie, vom hierarchischen »Wasserfallmodell«. Jenseits von gemütlichen Sitzsäcken und coolem Miteinander passiert das durch enorm verkürzte Zeitfenster. Statt mehrjähriger Projektlaufzeiten, gibt es kurze Entwicklungszeiträume, zwei bis vierwöchige »Sprints«, nach denen das Team konkrete Fortschritte präsentieren muss. Das schlägt sich auch in den Meeting-Routinen nieder. Täglich setzen sich die Mitarbeiter über den jeweiligen Arbeitsfortschritt in Kenntnis. Am Ende des »Sprints« bewerten sogenannte »Project Owner«, die die Perspektive des Kunden vertreten, den Arbeitsstand und formulieren Änderungswünsche. Die kurzen Zeitintervalle sorgen dafür, dass das Produkt regelmäßig getestet und angepasst werden kann.
Klassische Teamleiter sind dabei überflüssig. Was zählt, ist der regelmäßige Output. Wer wann, wo und auf welche Weise arbeitet, entscheiden die Teams in Eigenregie – mehr Freiheit, bei gleichzeitig höherem Ergebnisdruck. »Alle vier Wochen muss irgendwas gezeigt werden«, erzählt ein Software-Entwickler. Dadurch mache man sich zusätzlichen Stress. Früher habe man eine recht lange Entwicklungsphase gehabt, dann später eine Testphase. »Man hatte diese Stresszeit drei Wochen vor Entwicklungsschluss und dann war es gut.« Jetzt habe man diese Stresssituation ununterbrochen, über mehrere Monate.
Zudem wird der Arbeitsstand für jeden – auch außerhalb des Teams – transparent gemacht. Ziel ist, dass große Firmen mit vielen kleinteiligen Entwicklereinheiten »in einem Rhythmus schwingen«, das Wissen jedem zur Verfügung steht und keine unkontrollierbaren Expertencliquen entstehen. Boes sieht dabei die Gefahr »neuer Belastungspotenziale wie Dauerstress und permanenter Zeitdruck infolge fehlender Ruhepausen«. Auch ein anderer Software-Entwickler erzählt: »Früher war es ja so, man bekam eine Aufgabe und die war sehr, sehr weit gefasst.« Man sei al- lein für die Planung und Implementierung verantwortlich gewesen. »Mit dem Agile ist es jetzt so, dass das alles sehr kleine Aufgaben sind, man kommt sich ein bisschen vor wie jemand, der am Fließband steht und nur kleine Teile entwickelt.«
Auch im Forschungs- und Wissenschaftsbereich finden sich solche Mechanismen. Am Beispiel von Ingenieuren zeigen die Autoren der Studie auf, wie Transparenz, Mess- und Kontrollierbarkeit von Arbeitsfortschritten verhindern sollen, dass Projekte sich verselbstständigen und den Zeit- und Kostenplan überschreiten.
Im Zentrum des Konzepts steht das sogenannte Shopfloor-Board. Hier visualisieren die Mitarbeiter ihren Arbeitsprozess und Bearbeitungsstand. Dazu gehören beispielsweise Schätzungen über den Zeitaufwand ein- zelner Arbeitspakete und die ständige Aktualisierung von zentralen Kennzahlen. Boes stellt fest: »Insbesondere der damit verbundene Rechtfertigungsdruck sorgt für Unbehagen bei den betroffenen Beschäftigten. Sie erleben die neue Qualität der Transparenz oftmals als Kontrolle und als Verlust von Vertrauen seitens des Managements.« Einige der Beschäftigten sehen in dem neuen Arbeitsmodell aber auch Gutes: »Die Arbeit im Team ist intensiver geworden oder besser«, glaubt ein Beschäftigter. »Es gibt nicht mehr die Leute, die sich irgendwas vornehmen und so still vor sich hin hacken.«
Die Studie zeigt allerdings auch: Die Auswirkungen von »lean« und »agil« hängen stark davon ab, wie hoch die Qualifikation im jeweiligen Arbeitsfeld ist. In der Verwaltung bei- spielsweise ist von einem Mehr an Freiräumen keine Spur. Im Gegenteil. Dort schlägt sich die »Industrialisierung der Kopfarbeit« in einer minuziösen Vorgabe der einzelnen Arbeitsschritte nieder. Boes erkennt ein wiederkehrendes Muster: »Zunächst werden die Arbeitsabläufe detailliert dokumentiert und ausgewertet und dann als Prozesse in vereinheitlichte IT-Systeme überführt, die den Beschäftigten nun in Form eines rigiden und stark standardisierten Workflow gegenübertreten.« Ähnlich fällt die Einschätzung der Beschäftigten aus. So erzählt ein Mitarbeiter: »Diese ganzen Tüftelaufgaben, wie mache ich jetzt eine Prognose, damit es für den Gegenstand passt, und nicht einfach, ich mache eine Prognose, wie ich sie immer für alle anderen Gegenstände auch mache. Diese zusätzliche Zeit nimmt man sich nicht mehr.« Außerdem, so heißt es in der Studie, würden die Arbeitsabläufe mit zunehmender Digitalisierung in bisher nicht bekanntem Ausmaß transparent und messbar gemacht. »Dies reicht in der Praxis von der Aufzeichnung der Bewegungen des Mauszeigers in CallCentern über das Tracking der Bearbeitungszeiten im IT-Support bis hin zur Überprüfung der Pulsdaten von Beschäftigten.«
Die Fallstudien sieht Boes als Beweis, dass, ähnlich wie bei der Industrialisierung der Handarbeit im 19. Jahrhundert, nun geistige Tätigkeiten nach objektiven Kriterien strukturiert und unabhängig von Geschick des einzelnen organisiert werden. Während in höher qualifizierten, kreativen Bereichen mit dem erhöhten Druck auch Hierarchien abflachen und mehr Spielräume für Selbstorganisation in Teams entstehen, finde in der Verwaltung eine »digitale Taylorisierung« statt. »Die Entwicklung tendiert in Richtung eines Foucault`schen Kontrollpanoptikums auf der Basis von Daten und Informationssystemen«, so Boes.
Er sieht die lean und agil Strategien daher auch als wichtiges Betätigungsfeld für Betriebsräte. Sie sollten auf Beteiligung und kreative Freiräume bei der Implementierung solcher Prozesse drängen. Dafür wird Qualifizierung nötig. Auch Gewerkschaften sollten daher gegenüber solchen Managementkonzepten nicht die Augen verschließen, sondern sich intensiv damit auseinandersetzen und KnowHow an Beschäftigten und Betriebsräten weitergeben.
Die Transparenz und Messbarkeit von Arbeitsabläufen reicht in der Praxis von der Aufzeichnung der Bewegungen des Mauszeigers in Call-Centern über das Tracking der Bearbeitungszeiten im IT-Support bis hin zur Überprüfung der Pulsdaten von Beschäftigten.