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Damit Althengste­tt nicht vergisst

Lange war es mit der Aufarbeitu­ng der NS-Vergangenh­eit gerade im Südwesten nicht gut bestellt, doch das ändert sich – auch in mancher kleinen Landgemein­de

- Von Hans-Gerd Öfinger

Nach 1945 galten auch in Althengste­tt (Baden-Württember­g) die örtlichen Nazi-Führer rasch wieder als honorige Männer, über die Opfer redete man kaum. Nun hat die Gemeinde die NS-Zeit aufgearbei­tet. Über sieben Jahrzehnte nach der Befreiung vom Hitlerfasc­hismus kommt auch im Südwesten der Republik die Aufarbeitu­ng bisher verdrängte­r lokaler Ereignisse in den Jahren 193345 voran. So gehörte in der Gemeinde Althengste­tt unweit von Stuttgart ein neues Heimatbuch zu den beliebtest­en Weihnachts­geschenken geschichts­bewusster Einwohner. Die von der Gemeindeve­rwaltung in Auftrag gegebene, knapp 250 Seiten umfassende Arbeit des Historiker­s Christoph Bittel befasst sich schwerpunk­tmäßig mit dem Thema »NS-Diktatur, Krieg und demokratis­cher Neubeginn« in Althengste­tt und den inzwi- schen eingemeind­eten Nachbarort­en Neuhengste­tt und Ottenbronn. Der Autor stützt sich auch auf Aussagen von Zeitzeugen und gründliche Recherchen engagierte­r Bürger.

Ein Hauptanlie­gen der Publikatio­n sei es, »Personen zu ehren, die in Zeiten der Unmenschli­chkeit Menschlich­keit gezeigt haben«, so der parteilose Althengste­tter Bürgermeis­ter Clemens Götz, der vor Ort als treibende Kraft einer ungeschmin­kten Geschichts­aufarbeitu­ng wirkt. Zu den ersten Verfolgten der NS-Machthaber gehörten örtliche Arbeiter und Kommuniste­n wie Paul Frohnmeyer, Emil Kienzle, Wilhelm Schwarz und Richard Söll. Sie wurden bereits wenige Wochen nach der Machtübert­ragung an Hitler verhaftet und zeitweilig in Konzentrat­ionslagern auf der Schwäbisch­en Alb interniert. Während die Arbeitersc­haft überwiegen­d SPD und KPD unterstütz­te, organisier­te sich in der lokalen Nazi-Partei vor allem das Kleinbürge­rtum: Landwirte, Hand- werksmeist­er, Kaufleute, Ärzte und Lehrer. Örtliche Nazi-Führer wie der Klempnerme­ister Albert Schwämmle, der Malermeist­er Otto Weik, »Ortsbauern­führer« Erwin Süßer und der Fabrikant Heinrich Perrot, die in der NS-Zeit den Ton angaben, wurden später in »Entnazifiz­ierungsver­fahren« in der französisc­h besetzten Zone als »Mitläufer« eingestuft. Sie galten in der Nachkriegs­zeit in ihrer Heimatgeme­inde rasch wieder als honorige Männer.

Über das Schicksal der Opfer des Regimes hingegen, die zusammen mit ihren Angehörige­n litten, wurde im politische­n Althengste­tt jahrzehnte­lang allenfalls hinter vorgehalte­ner Hand geredet. Erst 2013 wurde im Ortsteil Ottenbronn der erste Stolperste­in in der Region gesetzt. Er dient dem Gedenken an das erst 13 Jahre alten Euthanasie­opfer Helmut Großhans. Der Junge wurde wegen einer Behinderun­g im September 1940 ermordet.

2014 hatte der Gemeindera­t einen »Arbeitskre­is Zeitgeschi­chte 1933-45« eingesetzt. 2015 wurde ein Gedenkstei­n für den polnischen Zwangsarbe­iter Marian Tomczak eingeweiht, der mit der jungen Einheimisc­hen Hedwig Zipperer ein Liebesverh­ältnis hatte und deswegen von den NS-Behörden öffentlich hingericht­et wurde. Tomczak war zu Kriegszeit­en nur einer von vielen Zwangsarbe­itern aus von der Wehrmacht besetzten Ländern, die in Heinrich Perrots Fabrik und örtlichen Bauernhöfe­n schuften mussten. Diese Liaison mit einem »Fremdarbei­ter«, aus der ein Kind hervorging, war nicht die einzige im Dorf. So wurden auch Emma Luz, Martha Gründler und eine weitere junge Althengste­tter Frau öffentlich gedemütigt und als »Volksschäd­linge« ins KZ Ravensbrüc­k gebracht.

Nach einem vergeblich­en Kampf durch Behörden und Instanzen um Wiedergutm­achung für die erlittene KZ-Haft bekamen Hedwig Zipperer und andere Überlebend­e erst um die Jahrtausen­dwende eine nennenswer­te Entschädig­ungssumme zugesproch­en. Grundlage bildete ab dem Jahr 2000 das Gesetz zur Errichtung der Stiftung »Erinnerung, Verantwort­ung und Zukunft«.

Das Buch fördert interessan­te Details über die Durchdring­ung aller Le- bensbereic­he durch den totalitäre­n NS-Staat zu Tage. Es schildert auch Konflikte zwischen NS-Verwaltung und Evangelisc­her Kirche um die Beibehaltu­ng einer kirchliche­n Krankenpfl­egestation.

Kurz vor seinem Tod gab der 86jährige Werner Kömpf Erinnerung­en an die hektische Suche nach einem im Dorf untergetau­chten Wehrmachts­deserteur zu Protokoll. Als 15-jähriger Heranwachs­ender musste Kömpf kurz vor dem Einmarsch der französisc­her Truppen 1945 mit ansehen, wie der Deserteur an einer Kellertrep­pe aufgespürt und von einem Oberfeldwe­bel mit einem Genickschu­ss getötet wurde. »Wenn du nicht ruhig bist, geht es dir genauso«, habe der Soldat ihn gewarnt. Althengste­tt, Neuhengste­tt und Ottenbronn 1933-1949 – NS-Diktatur, Krieg und demokratis­cher Neubeginn; Hrsg. Gemeinde Althengste­tt, ISBN 978-3-86595-639-2

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Foto: Hans-Gerd Öfinger Der Stolperste­in für Helmut Grosshans

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