Das Katastrophenjahr
Auch das Fernsehen stand 2016 im Schatten dramatischer Ereignisse – ein Rückblick mit Ausblick
Es war Anfang August, als dem TV-Jahr Erstaunliches widerfuhr: acht Tage lang kein ARD-Brennpunkt, nicht die kleinste Sondersendung zu Terror, Brexit, Krieg, Putsch – oder was den Globus in 52 Wochen noch so geschüttelt hat. Die standen so konstant im Bannstrahl radikaler Weltereignisse, dass der Kampf des türkischen Sultans Erdoğan gegen Böhmermanns Schmähgedicht nach dem Spottlied bei »extra 3« nicht acht Monate her zu sein scheint, sondern ewig. Anders gesagt: Positive Nachrichten hatten es 2016 echt schwer.
Ein Schicksal übrigens, das sie mit positiver Fiktion teilen. Das Klima war so gereizt, dass selbst leichtes Entertainment oft schwere Kost war. »Der Fall Barschel« zum Beispiel am 6. Februar: Im Kern war dieses Meisterwerk – wie »Der gute Göring«, dessen weniger guten Bruder Francis Fulton-Smith zuvor akkurat überdreht auferstehen ließ – nur ein weiteres Stück Historytainment, mit der die ARD ihre Primetime füllte. Hinter Kilian Riedhofs furioser Inszenierung des Politik- und Medienbetriebs der 80er Jahre schimmerte jedoch die populistische Systemkritik von heute auf.
Erst bebilderte das ZDF den NSUProzess mit Beate Zschäpes Fahrt zur Oma (»Letzte Ausfahrt Gera«). Dann durchleuchtete ihn die ARD-Trilogie »Mitten in Deutschland« aus Sicht von Tätern, Opfern und Polizei fiktional, aber realitätsgetreu. Was wiederum an den Staatsanwalt Fritz Bauer (Ulrich Noethen) erinnert, der im exzellenten ARD-Biopic »Der General« gegen braune Seilschaften der Nachkriegsjustiz kämpft. Und als das Publikum übers Urteil für Florian David Fitz als Bundeswehrpilot abstimmen durfte, der im ARD-Drama »Terror« ein entführtes Passagierflugzeug abschießt, war klar: Unterhaltung ist politisch wie selten.
Daran konnte weder der 1000. Tatort etwas ändern, bei dem sich Axel Milberg zu Maria Furtwängler ins »Taxi nach Leipzig« setzte. Auch nicht Winnetous weihnachtliche Wiedergeburt auf RTL. Und schon gar nicht »Ku’damm 56«, in dem das ZDF den Wirtschaftswundermuff so er- folgreich wegkoloriert, dass eine Fortsetzung folgt. Deutsche Serien beackern ansonsten gern mal das parlamentarische Feld. Allen voran »Die Stadt und die Macht« mit Anna Loos im Berliner Korruptionssumpf – hervorragend gespielt, durchaus glaubhaft, allerdings wenig populär. Was beweist: Damit sich die Zuschauer über längere Strecken auf Fiktion einlassen, sollte sie die Wirklichkeit eher streifen als kopieren.
Das hat neben Arte, das dank Serien wie »Jordskott« oder »Die Erbschaft« hervorsticht, besonders Netflix begriffen. Vom nostalgisch schönen Mysterium »Stranger Things« mit Winona Ryder in 83er-Beige übers famose Queen-Porträt »The Crown« bis zur reizenden Krimigroteske »Dirk Gently’s holistische Detektei« hat der Streamingdienst verinnerlicht, wie man das lineare Fernsehen aufmischt. Das zieht nicht nur Konkurrenz wie Sky nach oben, die mit dem Kiffer-Panoptikum »High Maintenance«, einer Popkulturreise namens »Vinyl« oder der seriellen Dystopie »Westworld« ebenfalls die nächste Niveaustufe erreicht; auch unser Markt ist geweckt.
Gut, nicht gerade bei RTL, das die Fortsetzung von »Deutschland 83« an Amazon Corp. (die wir angesichts der menschen- und umweltfeindlichen Firmenpolitik nur wegen ihres Testosteron-Vollbads »Top Gear« erwähnen, dem sie Asyl gewährt) verkauft hat und sonst Altmetall (Heißer Stuhl, Gottschalk, Tutti Frutti) recycelt. Die ARD schickt weiterhin Ermittler um den Globus (Urbino, Kroatien, Island), statt kreativ zu werden. Nur beim ZDF zeigen das Boxer-Melo- dram »Tempel« oder die Nazi-Persiflage »Familie Braun«, dass man öffentlich-rechtlich nicht nur mit Information überzeugen kann. Und für die steht am Ende neben NDR-Reporter Michel Abdollahi vor allem er: Claus Kleber.
Sein brillantes Interview mit dem deutschen Erdoğan-Anwalt steht ebenso wie die Reportage aus dem Silicon Valley (»Schöne neue Welt«) stellvertretend für Sachkenntnis von ARD/ZDF, zu der sich allerdings gerade nach dem Verlust der Olympischen Spiele gern Unterhaltungskompetenz jenseits von Sport und Show gesellen darf. Also nicht nur Biopics (Die Dasslers), Krimis (Maigret), Remakes (doppeltes Lottchen) im Ersten oder eine Eigeneloge auf 50 Jahre Farbfernsehen im Zweiten, sondern wahrer Wagemut, wie ihn Sky im Herbst mit Tom Tykwers »Babylon Berlin« an den Tag legen dürfte.
Überhaupt: Das Netz entdeckt die deutsche Sprache. Maxdome nutzt sie erstmals mit der Buddy-Reihe »Jerks« mit Christian Ulmen. Netflix besetzt Tom Schilling im Familien-Drama »Dark«. Amazon mietet für »You Are Wanted« natürlich den wohlfeilen Mainstreamking Matthias Schweighöfer an. Da sehen die privaten Platzhirsche mit Iny Klockes nächstem Sat1-Mittelalterschinken »Ketzerbraut« oder der Trampolinshow »Big Bounce« (RTL) natürlich älter aus.
Die großen Fernsehverluste dieses Katastrophenjahres: Roger Willemsen, Götz George und Manfred Krug, Zimmer frei!, Domian oder ZDFkultur: Ruhet sanft! Da oben ist es friedlicher als hier unten.