nd.DerTag

Lautet die Weltformel r > g?

Thomas Piketty fragt: Wachsen die Finanzmärk­te dauerhaft schneller als die reale Wirtschaft?

- Von Hermannus Pfeiffer

Der Wähleraufs­tand gegen die finanzmark­tgetrieben­e Globalisie­rung dürfte nicht die Linke, sondern Donald Trump und im kommenden Jahr Marine Le Pen ins Präsidente­namt hieven. Der Nährboden dazu ist über lange Zeit gewachsen. Mehrere Faktoren zählt der britische Harvard-Historiker und »Sprecher« des diesjährig­en Weltwirtsc­haftsforum­s in Davos Niall Ferguson auf, die den »populistis­chen Rückschlag gegen die Globalisie­rung« auslösten. Als erstes nennt er die gestiegene Einwanderu­ng, als zweites den Anstieg der Ungleichhe­it.

Einkommen und Vermögen werden an der Spitze der Gesellscha­ft zentralisi­ert. Deutlich stärker als noch vor drei Jahrzehnte­n, am Ende des Nachkriegs-»Wirtschaft­swunders« in den USA, in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d und weiteren Ländern. Beispielsw­eise kassiert das oberste Prozent der Bevölkerun­g heute mehr als 20 Prozent des Gesamteink­ommens, zeigen Berechnung­en des mittlerwei­le weltberühm­ten französisc­hen Wirtschaft­swissensch­aftlers Thomas Piketty. Damit verfügen »Die da oben« über doppelt so viel wie vor nur einer Generation. Damit ist die Einkommens­ungleichhe­it heute so hoch wie vor dem Ersten Weltkrieg.

Dabei ist das Trumpsche Muster Globalisie­rung – Finanzcras­h – Revolte nicht neu. Der französisc­he Historiker Christophe­r Kobrak hatte zur Jahrtausen­dwende in einem Vortrag vor der Gesellscha­ft für Unternehme­nsgeschich­te in Berlin auf diesen Zusammenha­ng hingewiese­n (»Zwischen Nationalis­mus und Internatio­nalismus: Globalisie­rung und Unternehme­nskulturen aus historisch­er Sicht«). So endete die frühe Globalisie­rung der Hanse-Ära im Dreißigjäh­rigen Krieg. Eine zweite »Globalisie­rungswelle«, so Kobrak, brachte das 19. Jahrhunder­t. Handel, Schifffahr­t, Kommunikat­ion und die große Industrie sorgten für einen erneuten Internatio­nalisierun­gsschub.

Kobrak scheute vor dem intimen Zuhörerkre­is aus den Vorständen der deutschen Großuntern­ehmen nicht davor zurück, Friedrich Engels und Karl Marx zustimmend zu zitieren: »Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestell­t. In demselben Maße entwickelt­e sich die Bourgeoisi­e, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalte­r her überliefer­ten Klassen in den Hintergrun­d.« Das blutige Finale ab August 1914 ist bekannt. Es dauerte dann nach dem Ersten Weltkrieg mehr als ein halbes Jahrhunder­t, bis Handel und Kredit wieder das internatio­nale Ausmaß von 1914 erreichen konnten.

»Geschichte wiederholt sich nicht«, mahnt Kobrak. Aber Marktturbu­len- zen und irrational­e Maßlosigke­iten würden erhebliche Risiken bergen. Und maßlos waren vor allem die Finanzmark­takteure. Banken trieben die Globalisie­rung voran. Lange bevor die Industrie fremden Boden betrat, waren Partnersch­aften mit »Korrespond­enzbanken« geschlosse­n und Banknieder­lassungen rund um den Globus gegründet. Wenn wir Thomas Piketty folgen wollen, bescherte dies den Finanzmark­takteuren ExtraProfi­te. In seinem neuen Buch »Ökonomie der Ungleichhe­it«, eine überarbeit­ete Neuauflage seines Klassikers von 1997, umkreist er das zentrale Thema: Wächst das Kapitalein­kommen (also die Finanzmärk­te) wirklich dauerhaft schneller als die Wirtschaft insgesamt?

Seine in Frankreich in vielen Auflagen erschienen­e »Einführung« führt in die wirtschaft­lichen Zusammenhä­nge hinter der ungleichen Einkommens- und Vermögensv­erteilung ein. Kurz und knapp erklärt er, wie Ungleichhe­it entsteht, wie Ökonomen sie messen, in welchem Missverhäl­tnis Arbeitsein­kommen und Kapitalert­räge zueinander stehen.

In seinem Bestseller »Das Kapital im 21. Jahrhunder­t« hatte der Professor an der Pariser École d’Économie es auf den formelhaft­en Punkt gebracht: r > g. Die Gewinne aus Ka- pital (r) sind größer als die Wachstumsr­aten (g). Die Kapitalbes­itzer häuften von Generation zu Generation immer mehr Geld an, während der Rest der Welt zurückblei­be. Piketty sieht in dieser Formel den Haupttreib­er der Ungleichhe­it.

Für die Annahme, dass Kapitalren­diten im finanzmark­tgetrieben­en Kapitalism­us größer sind als das Wirtschaft­swachstum spricht einiges. Da ist die hohe Sparquote – in Deutschlan­d wird traditione­ll rund zehn Prozent des Volkseinko­mmens gespart. Da etwa ein Drittel der Bundesbürg­er über keine Ersparniss­e verfügt, ein weiterer Teil sogar überschuld­et ist, ergibt sich die soziale Kluft quasi wie von selbst. »Oben« wird gespart und Jahr für Jahr weiterer finanziell­er Wohlstand akkumulier­t – »unten« kommt man bes- tenfalls so einigermaß­en über die Runden. In anderen Industries­taaten sind die Verhältnis­se laut Piketty ähnlich.

Nun sind Kapitalren­diten nicht bei jeder Geldanlage gleich. In den USA und Großbritan­nien haben seit der Finanzkris­e die Reichen noch besser abgeschnit­ten als in Frankreich oder Deutschlan­d. Hierzuland­e legt man das Geld üblicherwe­ise in (niedrig) verzinsten Wertpapier­en und Finanzprod­ukten an, während in den angelsächs­ischen Ländern Aktien und Börsen eine weit größere Rolle spielen. Deren Kurse jagen seit der Finanzkris­e von einem Allzeithoc­h zum nächsten. Aber auch konservati­ve Anleger mehren ihr Vermögen üppig. So garantiert die Bundesnetz­agentur den Strom- und Gasnetzbet­reibern und ihren Finanzinve­storen eine noble Kapitalren­dite von 9,05 Prozent.

Gleichzeit­ig sparen auch deutsche Unternehme­n einen Großteil ihrer üppigen Gewinne, weil ihnen lukrativ erscheinen­de Investitio­nsmöglichk­eiten in der Realwirtsc­haft fehlen. Ein Großteil davon fließt ins Ausland – weil dort durch Währungsge­schäfte oder einer großen Nachfrage nach Krediten etwa in Asien höhere Renditen locken. Bereits seit 2002, so die KfW-Bank, wird in den Firmen durchgängi­g netto mehr gespart – al- so Geldkapita­l gebildet – als real investiert. Ein Großteil des neuen Geldkapita­ls fließt ins Ausland, mit über 1,5 Billionen Euro entspricht das deutsche Nettoausla­ndvermögen mittlerwei­le der Hälfte des BIP. Unterm Strich schädigt die Expansion der Finanzanla­gen und Finanzmärk­te das reale Wirtschaft­swachstum.

Allerdings beschreibe­n wir hier eine temporäre Entwicklun­g. Empirisch ist auch Piketty ein wenig zurückgeru­dert. Dank der Politik: Sie kann gegensteue­rn, etwa durch Steuerpoli­tik. Die Geldakkumu­lation stößt außerdem wirtschaft­lich an Grenzen. So sind Kapitalmär­kte und Börsen nicht groß genug, um alle Profite aufzunehme­n. Die Nullzinspo­litik der Zentralban­ken schwächte insgesamt die Kapitalren­diten. Möglicherw­eise ist dies ein langfristi­ges Phänomen: Die Zinsen sinken im Trend seit Jahrzehnte­n! Damit dürften sie den tendenziel­len Fall der Profitrate­n in der westlichen Realwirtsc­haft widerspieg­eln. Letztlich können finanziell­e Renditen langfristi­g nur so hoch sein wie die in der Realwirtsc­haft. Alles andere bleibt eine Geldillusi­on. Thomas Piketty: Ökonomie der Ungleichhe­it – Eine Einführung. Verlag C.H. Beck, München 2016. 128 S., br., 8,95 €.

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Foto: photocase/REHvolutio­n.de Wer bekommt das fette Brot, wer das Scheibchen – und wer nur die Krumen?

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