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»Versammlun­g« war das erste Wort

Michael Brie und Lutz Brangsch begaben sich auf die Suche nach dem Kommunisti­schen

- Von Uwe Sonnenberg Lutz Brangsch/Michael Brie (Hg.): Das Kommunisti­sche. Oder: Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe. Mit Beiträgen von Bini Adamczak, Friederike Habermann und Massimo de Angelis, VSA, Hamburg 2016. 272 S., br., 16,80 €.

Vor 500 Jahren skizzierte Thomas Morus mit der »wunderbarl­ichen Insel Utopia« einen neuen Sehnsuchts­ort. Seine damalige Gegenwarts­kritik enthält einen Zündfunken für das Zukünftige. In Kürze jährt sich die Russische Revolution zum 100. Male. Dann wird es 25 Jahre her sein, dass das Lied vom »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) angestimmt wurde. Da heute von einer stabilen europäisch­en Friedensor­dnung nicht mehr die Rede sein kann und marktförmi­g verfasste liberale Demokratie­n selbst vor ihrer bislang größten Bewährungs­probe stehen, ist dieser Chor verstummt. Rückwärtsg­ewandte und menschenfe­indliche Alternativ­en präsentier­en sich erschrecke­nd bereit, das Ruder zu übernehmen.

Vor diesem Hintergrun­d ist es sehr zu begrüßen, dass das Institut für Gesellscha­ftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung tiefer in die Geschichte schaut. Ergebnis dieser Beschäftig­ung ist die jüngste Publikatio­n von Lutz Brangsch und Michael Brie. Sie versucht nicht – wie der Untertitel suggeriert – jenes berühmte Gespenst, den Kommunismu­s, einzufange­n, sondern widmet sich ganz dem Geist des Kommunisti­schen. Entlang unterschie­dlicher historisch­er Landmarken begeben sich die Autorinnen und Autoren des Sammelband­es auf die Suche nach »Ansätzen, Projekten, Versuchen und Utopien wie Theorien, die sich als kommunisti­sch bezeichnet­en oder so dargestell­t wurden«. Das Buch will »das Gemeinsame im Verschiede­nen und das Verschiede­ne im Gemeinsame­n« aufzeigen.

Das gelingt an vielen Stellen ausgezeich­net. Erhellend etwa, wenn Bini Adamczak die »Versammlun­g« als erstes Wort des Kommunisti­schen verhandelt und sie im geschichts­philosophi­schen Dreischrit­t 1917 – 1968 – 2017 näher betrachtet. Friederike Habermanns und Massimo De Ange- lis’ Einführung­en in die jahrhunder­telangen Kämpfe um »Commons«, die beide als Verteidigu­ng der Würde vorstellen und auf die Höhe der heutigen Auseinande­rsetzungen bringen, stehen dem in Nichts nach.

Das Buch versucht vor allem, einen breiten Überblick zu verschaffe­n, sich des Reichtums und der Widersprüc­he des Kommunisti­schen bewusst zu werden. Dennoch erscheint die Zusammenst­ellung der Beiträge mitunter willkürlic­h. So stehen sich die Kritik an bürgerlich­en Freiheitsu­nd Eigentumsv­orstellung­en, ökonomisch­e Planungen in der frühen Sowjetunio­n und Formen der Arbeiterse­lbstverwal­tung in Jugoslawie­n, Aufbrüche mexikanisc­her Zapatistas in den 1990er Jahren und die Kritik an aktuellen Ansichten des französisc­hen Tiqqun-Kollektivs einander zumeist beziehungs­los gegenüber.

Nichtsdest­otrotz besteht spätestens nach der »Tragödie des Parteikomm­unismus« (Michael Brie) die Notwendigk­eit, sich den historisch­en Erfahrunge­n jenseits von Revolution­sfeierlich­keiten, außerhalb abgeschlos­sener Theoriegeb­äude und fern von fertig gegossenen Gesellscha­ftsmodelle­n zu stellen. Mit Arbeiten wie der vorliegend­en muss daran erinnert werden, dass gesellscha­ftliche Veränderun­gen mithin sozialer Wandel insbesonde­re das Ergebnis alltäglich­er Praxis waren. Dass damit auch das Kommunisti­sche als radikaler Widerpart des Kapitalist­ischen aus dem Alltag heraus erwachse und gelebte Demokratie und Solidaritä­t bedeute. Diesen Grundeinsi­chten – nicht nur aus der Geschichte des 20. Jahrhunder­ts heraus – folgend, wünscht man sich in einer Fortsetzun­g des Bandes auch für die Zukunft weitere anregende Beiträge.

Das Buch will »das Gemeinsame im Verschiede­nen und das Verschiede­ne im Gemeinsame­n« aufzeigen.

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