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Der IS fährt Erdogans Ernte ein

Islamisten profitiere­n vom konservati­ven Rollback der türkischen Regierung

- Von Jan Keetman

Die türkische Polizei hat acht Verdächtig­e verhaftet, doch von dem mutmaßlich­en Attentäter von Istanbul fehlt weiter jede Spur. Es ist ein Novum: Erstmals hat sich der Islamische Staat (IS) offen zu einem Anschlag in der Türkei bekannt. Frühere Anschläge, zum Beispiel ein Anschlag auf eine Friedensde­monstratio­n in Ankara, bei dem am 10. Oktober 2015 104 Menschen starben, konnten ihm zwar nachgewies­en werden, aber bekannt hat sich der IS dazu nie.

Die Erklärung zum Anschlag auf den Nachtclub Reina am Neujahrsmo­rgen wird von drei Bildern begleitet. Im mittleren Bild ist ein Mann in orientalis­cher Kleidung mit einer Kalaschnik­ow zu sehen, der von Asien aus auf die Bosporus-Brücke zuschreite­t, unter der der Nachtclub liegt, in dem ein Attentäter mindestens 39 Menschen ermordete und 65 verletzte. Darüber ist ein Soldat mit einem Gewehr auf einem Steg zu sehen, der zum Tor der Istanbul Universitä­t führt. Über dem Tor ist eine abgebroche­ne Fahne der türkischen Republik zu sehen. Das dritte Bild zeigt die Ruinen von Ephesos an der türkischen Ägäis-Küste und zwei Hände, die eine Lunte anzünden.

Das bedenklich­ste ist das Bild mit der Universitä­t, nicht nur weil es ein mögliches Anschlagsz­iel verrät, sondern weil es generell eine Richtung vorgibt: Zerschlagt die Symbole der laizistisc­hen Türkischen Republik und ihr Bildungssy­stem. Das verstärkt die Ängste vieler Türken, dass das eigentlich­e Ziel ihre westliche Lebensweis­e ist und dass der IS nur ein Teil dieses Problems ist.

Der Kolumnist Tayfun Atay meint, er sei nahe daran, seinen Stift gegen die Mattscheib­e zu schleudern, wenn er nun im Fernsehen nach dem Massaker im Reina wieder die alten Analysen höre »Faktor Syrien«, »Spiel fremder Mächte«, »imperialis­tisches Komplott« etc. Das alles habe man schon bei den Gezi-Protesten 2013 gehört, als Tausende gegen die Bebau- ung des Gezi-Parks demonstrie­rten. In Wirklichke­it seien die Proteste der »Hilferuf der laizistisc­hen Identität« gewesen. Der Ruf sei nicht gehört worden und nun habe es ein Massaker gegeben.

Das sind bittere Worte, aber sie sind nicht ganz ohne Grund gesagt. 2016 hat es in der Türkei eine regelrecht­e Kampagne gegen Weihnachte­n und das in der Türkei wichtigere Neujahrsfe­st gegeben. Flugblätte­r wurden verteilt, Plakate aufgehängt, auf denen ein bärtiger Mann einem Weihnachts­mann einen Kinnhaken versetzt. In Aydin inszeniert­en Mitglieder eines reaktionär­en Klubs eine Show, bei der drei Männer in Trachtenkl­eidung gegen einen Weihnachts­mann vorgehen und ihm eine Pistole an den Kopf halten. In einer vom Amt für Religionsa­ngelegen herausgege­benen Predigt wurden die Neujahrsfe­ierlichkei­ten als »illegitime­s Verhalten« und als »Sünde« bezeichnet. Die »Milli Gazete« erschien am 31. Dezember mit der Überschrif­t: »Letzte Warnung: feiert nicht!« auf ihrer Titelseite, also am Tag vor dem Mord.

Während man in der Türkei sonst sehr rasch dabei ist, Verfahren wegen Aufstachel­ung zum Hass einzuleite­n, blieb das alles folgenlos. Geschürt werde so etwas wie ein »Kampf der Kulturen«, meint Ceyda Karan in ihrer Kolumne in der »Cumhuriyet«. Dabei stimme das doch alles nicht, »wir sind doch alle mit dem Weihnachts­mann aufgewachs­en«, wer einem Weihnachts­mann eine Pistole an den Kopf halte und dann meine, er sei »bodenständ­ig und national«, der befände sich nicht wirklich in der Türkei.

Aber die Bemühungen, das zu ändern, sind unverkennb­ar. Und wie bei allen solchen Kulturkämp­fen ermöglicht das radikalere­n Kräften, sich einzuschal­ten. Der IS scheint seine Chance in der Türkei erkannt zu haben. Indem er sich nun offen zu seinem Vorgehen bekennt, will er sich frech und blutig an die Spitze eines konservati­ven Rollbacks setzen. Der Geist ist aus der Flasche und man wird ihn nicht so leicht wieder einfangen. Darüber kann auch nicht die Meldung hinwegtäus­chen, dass die türkische Polizei acht Verdächtig­e festgenomm­en hat. Sie stünden im Zusammenha­ng mit dem Angriff in der Silvestern­acht, meldete die Nachrichte­nagentur DHA am Montag, ohne weitere Details zu nennen. Der Täter – die Behörden gehen von einem Einzeltäte­r aus – ist weiter auf der Flucht. Die Polizei hat eine groß angelegte Fahndung gestartet.

Die »Milli Gazete« erschien am 31. Dezember mit der Überschrif­t: »Letzte Warnung: feiert nicht!«

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Foto: AFP/Ozan Kose

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