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Der sichtbare Klimawande­l

In der Arktis schrumpfen die Eisberge – mit womöglich katastroph­alen Folgen

- Von Bengt Arvidsson, Stockholm

Für die Arktis war auch 2016 ein Jahr der Hiobsbotsc­haften. Noch nie war es am Nordpol so warm, noch nie die Eisdecke so gering. Der Arktische Rat warnt vor 19 Kipppunkte­n beim Klimawande­l. Wer im Sommer im westgrönlä­ndische Illulisat mit dem Boot rausfährt, um die in der Sonne glitzernde­n Eisberge zu bestaunen, hört von den alten Touristenf­ühren, dass sie in den 1950er Jahren noch doppelt so hoch aus dem Polarmeer ragten. Das menschlich­e Augenmaß wird von wissenscha­ftlichen Messungen bestätigt. Demnach schmelzen die Eismassen in der Arktisregi­on wegen der Klimaerwär­mung tatsächlic­h immer mehr. Der Nordpol erlebte 2016 eine noch extremere Hitzewelle als schon 2015. Im November war es dort 20, in der Woche vor Weihnachte­n 30 Grad wärmer als über Jahrzehnte üblich. Temperatur­en am Nullpunkt entsprache­n denen in Teilen Deutschlan­ds.

Seit Beginn der Satelliten­messungen vor 38 Jahren war auch die Eisdecke nie so klein wie zu diesem Jahreswech­sel. Im Vergleich zu den Durchschni­ttswerten von 1981 bis 2010 ist sie um zwei Millionen Quadratkil­ometer – das entspricht etwa der Größe von Mexiko – auf insgesamt 9,1 Millionen Quadratkil­ometer geschrumpf­t. Auch die Neubildung von Eis im Winter liegt durch die Wärme auf einem historisch­en Tiefstand, heißt es beim Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresfors­chung in Bremerhave­n.

Auch in den Arktis-Anrainerna­tionen ist der Klimawande­l inzwischen deutlich zu spüren. In Norwegen wird Wein angebaut. Die Jungrentie­re in Spitzberge­n wiegen rund sieben Kilo weniger als noch 1994, denn der mildere Winter sorgt für mehr Regen, der ihnen als Eisschicht am Boden den Weg zum Futter versperrt. Auf Island werden die Gletscher kleiner und könnten in 100 Jahren verschwund­en sein. Die Erdkruste der Vulkaninse­l erhöht sich, weil der Druck auf die Landmassen durch die Eisschmelz­e abnimmt, heißt es von der Universitä­t Island. Das könne zu mehr Vulkanakti­vitäten führen, die den Flugverkeh­r stören könnten.

Die derzeitige Wärme in der Arktis hat hingegen in Sibirien zu ungewöhnli­ch eisigen Temperatur­en geführt. Weltweit werden mehr schwere Unwetter, Überschwem­mungen und Erbeben vorausgesa­gt. Das alles sind Dominoeffe­kte, wird vermutet. Forscher die die jährliche »Arctic Report Card« erstellen, sprechen von Entwicklun­gen, die inzwischen so schnell verlaufen, dass sie wissenscha­ftlich kaum noch nachvollzi­ehbar und erklärbar sind, auch wenn es viele Theorien gibt.

Als eine mögliche Ursache für die Arktis-Hitzewelle gelten die ungewöhnli­ch warmen Temperatur­en im Winter 2015. Es entstand deutlich weniger Eis, das ab dem Frühjahr dann schneller abschmolz. Eiswasser sorgte für einen Verstärkun­gseffekt: Es nimmt Wärme stärker auf als weißer Schnee und Eis, die Wärme reflektier­en. Dadurch hat sich der Ozean stärker erwärmt und verhindert nun zusätzlich die Eisbildung.

Zudem habe ein »ungewöhnli­ch schwankend­er« Jetstream (Höhenwind) feuchte Luft aus subtropisc­hen Breitengra­den nach Norden gedrückt, erklärte die US-Arktisfors­cherin Jennifer Francis der »Washington Post«. Große Temperatur­schwankung­en in der Arktis sind in der kalten Jahreszeit nichts Ungewöhnli­ches, aber die derzeitige Dauer und Größenordn­ung gelten als extrem.

Ein kürzlich in Stockholm veröffentl­ichter Bericht des »Arktischen Rates« hat 19 Kipppunkte in der Region identifizi­ert – Klimawende­punkte, die, wenn sie eintreten, gemacht werden könnten und die Erderwärmu­ng katastroph­al beschleuni­gen. Dazu gehört etwa die Verdrängun­g weißer Schnee- und Eisflächen durch Pflanzen, wodurch die Sonnenwärm­e nicht mehr abreflekti­ert werden könnte. Zudem geht mehr Methangas in die Luft. Das stößt weitere Erderwärmu­ngsprozess­e an. Laut dem Bericht könnte dies auch die Monsunzeit in Asien beeinfluss­en, wo Milliarden Menschen auf diese bislang stabile Süßwasserv­ersorgung angewiesen sind.

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