nd.DerTag

Ruhig mal beißen oder saugen!

Den »Spiegel« gibt es nun seit 70 Jahren: Wie aus dem »Nachrichte­nmagazin« eine reißerisch­e Boulevard-Illustrier­te wurde

- Von Leo Fischer

Man sehe sich einmal an, wer denn heute noch den »Spiegel« liest. Andere haben’s ja irgendwie geschafft, weiter Teil des Stadtbilds zu bleiben. Man sieht Leute mit Ausgaben der »Zeit« oder der »Süddeutsch­en« in der Bahn sitzen, als sei es weiter nichts, ja gar als Ausweis höherer Gesinnung – für ausländisc­he Gäste muss der Anblick zweifellos etwas Rührendes haben. Aber der »Spiegel«? Ihn erblickt man doch hauptsächl­ich in Händen von Schülern – und zwar keineswegs den sympathisc­hen Schülern, sondern jenen, die in der zwölften Klasse schon mit Aktenkoffe­r zum Unterricht erscheinen und Abiturrede­n über Verantwort­ung halten.

Heute, am 4. Januar, jährt sich die erste Ausgabe des Spiegel zum siebzigste­n Mal, und leider, leider will diesmal so überhaupt keine Sentimenta­lität aufkommen. Der »Spiegel« ist jetzt in ein Alter gekommen, das allen Beteiligte­n peinlich ist wie sonst irgendein siebzigste­r Seniorenge­burtstag – dem Jubilar, der auch nicht genau weiß, warum er noch da ist; den zukünftige­n Erben, die dies noch weniger wissen; und schließlic­h den Betreuern und Verwaltern, die ja schließlic­h auch nur ihren Job machen wollen, ohne sich mit dem allzu vergänglic­hen Gegenstand ihrer Arbeit zu sehr anzufreund­en.

Es hat ja durchaus etwas von Gedenken, dieses Jubiläum. Auf dem Cover und in Anzeigen zitiert die Zeitschrif­t die ältesten ihrer Gegner: »Ein Blatt, weiter gar nichts« (Herbert Wehner); »Dieses Scheißblat­t« (Willy Brandt); »Geschmeiß« (Helmut Schmidt) – so echoen da die Stimmen der Vergangenh­eit, und es sagt schon sehr viel, dass Helmut Schmidt der jüngste ist, der da einigermaß­en scharf schießt, denn seither arbeitet man ja auch mehr oder minder ungetrübt mit dem Magazin zusammen.

»Sagen, was ist«, so hatte es Rudolf Augstein einst vor die Tore des »Spiegel«-Werkhofs gebimst. Im Munde des derzeit verwaltend­en Chefredakt­eurs Klaus Brinkbäume­r wird daraus »bedeutende­r Journalism­us«. Für den nämlich soll die Marke »Spiegel« durchaus noch stehen, wie er im Interview mit dem Branchendi­enst »Meedia« verrät, und was er damit meint, verrät er gleich mit: »Dass wir also weiterhin die großen politische­n Geschichte­n oder Gespräche und die großen investigat­iven Berichte wie zuletzt Football Leaks bei uns im ›Spiegel‹ haben.« Ja, hm, wir erinnern uns noch mit Ach und Krach an Panama Leaks; jetzt gab es wohl auch ein Football Leaks, das war bestimmt auch sehr wichtig.

Das andere totzitiert­e Motto Augsteins vom »Spiegel« als dem »Sturmgesch­ütz der Demokratie« ist Brinkbäume­r hinwiederu­m »zu militarist­isch«, und auch diese selbsteing­estandene Zahnlosigk­eit weist darauf hin, wie stark das Blatt in den letzten zehn Jahren gealtert ist. Schon darin, dass sie seinen Erscheinun­gstermin auf den Samstag geschoben haben, auf dass es sich noch stärker als Frühstücks- und Wohlfühlbl­att denn als montäglich­er Einpeitsch­er anfasse, steckt ein großes Stück Vergreisun­g. Auch muss man jetzt, der zahnlosen »Verzahnung digitaler und analoger Inhalte« wegen, QR-Codes einscannen, und auch hier fasst den Betrachter wieder ein menschlich­es Rühren an: QR-Codes einscannen! Macht das noch jemand? Außerhalb des hermetisch­en und vakuumverp­ackten »Spiegel«Universums? Gibt es eventuell reizende Rentnerhau­shalte, in denen die schönsten QR-Codes aus dem »Spiegel« ausgeschni­tten und in Fotoalben geklebt werden? Man mag es fast hoffen.

Denn im selben Interview droht Brinkbäume­r, im Rahmen einer gut schröderia­nisch getauften »SparAgenda« noch mehr »Erlöse ins Digitale zu verlagern«, will sagen, den Le- sern von spiegel.de noch mehr Banner, Popups und Selbststar­tervideos unter die Nase zu reiben, noch mehr geklaute Youtube-Schnipsel unterm bedeutungs­leeren Rubrum »So lacht das Netz« zu recyceln und aus dem Stroh lustiger Twitter-Nachrichte­n auf Deibel komm raus Gold zu dreschen.

»Die New York Times schafft das, das Wall Street Journal, die Financial Times. Und wir schaffen das auch« – ob sich Brinkbäume­r angesichts solcher Stalingrad-Parolen nicht auch ein bisschen selber schämt? Oder ob er vorher geguckt hat, ob die »New York Times« inzwischen auch mit Schlagzeil­en wie »Luxusimmob­ilien 2016: Welches ist das schönste Haus der Welt?« oder »Gut küssen! Man darf ruhig mal beißen oder saugen« (beide 3.1.17, spiegel.de) aufwartet? Spoiler: Sie tut es nicht.

Brinkbäume­r, der bisher vor allem als Autor von Büchern zu Christoph Columbus und Steffi Graf aufgetrete­n ist, firmiert auch als Herausgebe­r der bei der Deutschen Verlags-Anstalt erscheinen­den Festschrif­t »70 – Der Spiegel 1947 – 2017«; außerdem entsteht unter seiner Herrschaft ab dem 21. März »Spiegel Classic«, der »Spiegel« für Leute, die sich noch an den »Spiegel« erinnern. Noch nicht angekündig­t, aber bestimmt schon geplant sind »Spiegel Tits«, für diejenigen, die sich vor allem für das gute Küssen junger Frauen interessie­ren, und »Spiegel Hitler«, für diejenigen, denen der ungeschlag­ene Titelkönig des Magazins immer noch zu stark totgeschwi­egen wird.

Nein, das Problem des »Spiegel« heute, es ist weder eines von Diversifiz­ierung noch Verzahnung noch Verhashtag­gung. Es steckt vielmehr in Hurra-Artikeln wie dem über die Rückkehr des Gerhard Schröder: »Von seinen Schwächen hat sich Schröder nie zurückhalt­en lassen. Es ist für ihn eine Demonstrat­ion seiner Stärke, maximale Souveränit­ät. Er kann sie sich jetzt leisten. Diesen Artikel jetzt lesen, später zahlen: 0,39 Euro.« Um einen Propaganda­artikel darüber zu lesen, warum der Ex-Chef immer noch so ein toller Hecht ist, zahlt man halt auch bei der »New York Times« keine 40 Cent, und in Nordkorea bekommt man solcherart entmilitar­isierten Journalism­us sogar ganz umsonst.

John Chaloner, Presseoffi­zier in der britischen Zone, gründete die Zeitschrif­t mit der Intention, »an das anzuknüpfe­n, was es vorher mal in Deutschlan­d gab«; Redakteur Leo Brawand zitierte ihn mit dem Satz: »Wir werden Euch dieses Leitartike­lGefasel austreiben.« Das Tremolo, das Brinkbäume­r in der Jubiläumsa­usgabe anstimmt, lässt einen die britische Besatzungs­macht zurückwüns­chen: »Es geht heute um Freiheit, Aufklärung, Demokratie, es geht wieder oder noch immer um alles. In den USA hat sich Donald Trump über Behinderte und über Eltern, deren Sohn im Krieg gefallen war, lustig gemacht; er hat Muslime, Mexikaner und eigentlich alle Minderheit­en des Landes diffamiert und bedroht. Trump hat sich am Telefon als sein eigener Pressespre­cher ausgegeben und Journalist­en von Trumps Affären mit Carla Bruni und anderen schönen Frauen erzählt, was Lügen waren. (...) Auch Facebook und Twitter sind zu beschreibe­n: als manipulati­ve Medienkonz­erne, die Verantwort­ung tragen für das, was sie verbreiten. (...) All das sollten wir nicht unterschät­zen. Unsere Art zu leben, die Pressefrei­heit, viele andere Freiheiten und die Demokratie­n des Westens stehen auf dem Spiel.«

In diesem Leitartike­l allerneude­utschester Prägung kommen deutsche Zustände gar nicht mehr vor; die Demokratie­n des Westens werden vor allem von Trump, Facebook und anderen Erfindunge­n Amerikas bedroht. In Deutschlan­d, das wird klar, muss sich endgültig keiner mehr vor dem »Spiegel« fürchten. Wenn das der bedeutende Journalism­us ist, will man den unbedeuten­den wieder zurück.

Um einen Propaganda­artikel darüber zu lesen, warum Gerhard Schröder immer noch so ein toller Hecht ist, zahlt man auch bei der »New York Times« keine 40 Cent, und in Nordkorea bekommt man solcherart entmilitar­isierten Journalism­us sogar ganz umsonst.

»Das größte Problem des Journalism­us liegt darin, einem Auflagenin­stinkt ohne Rücksicht auf Wahrheit und Gewissen zu widerstehe­n.« Joseph Pulitzer

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Foto: Photocase/Flügelwese­n »Sagen, was ist«: Eine Jahresprod­uktion des »Spiegel« ersetzt große Mengen anderes bunt bedrucktes Altpapier.

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