Studienreise: in die Wüste geschickt
DDR-Dramatik: Lesereihe am Berliner Ensemble – Erinnerung an Heinz Drewniok
Leben ist Aufbruch – irgendwann aber das Erschrecken: Niemand hat dir gesagt, wohin. Karl und Kasimir, zwei talentblasse Caféhaus-Musiker, sitzen kurz vor ihrem Auftritt in einem »elenden Bumslokal« und stecken mitten in diesem Schock: Wohin? Warum? Wie lange noch? Seit acht Jahren quälende, aufgezwungene Kollegenschaft. Hass wie in Thomas Bernhards Musiker-Dämonie »Macht der Gewohnheit«, Absonderlichkeit wie in Fellinis »Orchesterprobe«. Sinnfällig sinnlose Sätze über die Folter, ein Künstler zu sein: »Wenn einer was hinterlässt, ist es aus mit der ewigen Ruhe.«
»Karl und Kasimir« heißt die kleine »Valentiniade« – eines von drei Stücken des Autors Heinz Drewniok, in der Lesereihe »DDR-Dramatik« im Gartenhaus des Berliner Ensembles, gebündelt zu »Szenen aus dem Thüringer Wald«. Der Maschinenbauer, Schauspieler, Regisseur und Dramaturg Drewniok (1949-2011) verband in seinen Schauspielen Elemente einer schwingenden Melancholie mit trocken absurdem Witz. Das Leben wie ein Wesen, dem für Umarmungen nichts und niemand zu hässlich ist, das aber auch die Wahrheit weiß: Überall willkommen ist niemand. Und sei die Welt noch zu klein.
Dem Stoff des zweiten Einakters verdankt der Programmzettel sein Titelfoto: Erich Honecker mit geschulterter Waffe vor einer Reihe erlegter Tiere. Staatsjagd oder auch Diplomatenjagd. Seltsame Wortfindung angesichts der Tatsache, dass man ja auch von Hasenjagd spricht. Grotesk, wie Sprache offenlässt, wer in einem Falle Jäger und im anderen Falle Gejagter ist. »Die Jäger« von Drewniok, geschrieben Anfang der achtziger Jahre, führt den Autor einer Tetralogie und den Maler eines Triptychons auf einer Waldlichtung zusammen. Preisgekrönte Staatskünstler, vom »Komitee« zur Jagd eingeladen. Und nun entspinnt sich im Niemandsland aus düsterem Licht und unheimlichen Naturgeräuschen ein treibjägerischer Dialog - in dem Opportunismus zu dissidentischer List umgelogen wird, künstlerisches Mittelmaß in Volksverständlichkeit, Staatspreisgeilheit in verdienstvolle Strebsamkeit.
Einmal ist die Rede vom »Verband der föderativen Radikalen« – Drewnioks pfiffige Abrechnung mit der sozialistischen Quadratur des Teufelskreises: staatstreu zu sein, aber Künstler bleiben zu wollen. Tiefpreis der Erniedrigung namens Parteilichkeit: Man wurde nicht in die Wüste geschickt, sondern erhielt eine »Studienreise« dorthin - und dankte dafür. Ein Stück über die fatale Verwandlung: Alle Erniedrigung, mit der ein offizieller Applaus bezahlt werden muss, wird umfunktioniert in eine zusätzliche Belohnung.
Erinnerung an Heinz Drewniok, das ist an diesem Abend im BE indirekt auch eine Erinnerung an Horst Schönemann, der zu DDR-Zeiten in Dresden dessen Uraufführungsregisseur war. Vor wenigen Tagen wäre der 2002 Verstorbene 90 geworden. Die FAZ nannte ihn mal den »Trainer des DDR-Theaters«. Dieser Regisseur sah nicht im Formen-Exerzitium sein Feld und auch nicht im schnellen Wirbel des reinen Spaßes. Er zerbrach Stücke nicht, er öffnete sie; er hieb nicht protzend oder unbedenklich in die Texte hinein, er leuchtete sie auf eine Weise aus, der die aparte Undeutlichkeit oder kalte Unverbindlichkeit fremd waren. Auf Drewniok gemünzt: Parabel trifft Volksstück.
»Der Tod im Apfelbaum« hieß ein legendäres westdeutsches KriminalFernsehspiel Anfang der sechziger Jahre. Das Versteck inmitten der Früchte des Lebens – und der Apfelbaum als Baum jener Erkenntnisse, die das Leben schwermachen. Auch im dritten Drewniok-Stück hängt der Tod im Apfelbaum – in Gestalt eines Mannes, der sich aufhängen will, alle Äpfel da oben anbeißt, sich den Durchfall holt und im Bett der Gartenbesitzerin landet. Er hatte genug vom Leben, weil er immer zu wenig von ihm wollte, von ihm bekam. Nun das Gespräch mit einer ebenfalls Veräppelten und Existenzverschuldeten. Aber doch immerhin einer Gegerbten, die noch Kraft und Charme hat.
Womit wir bei den drei Lesenden des Abends sind, der wieder unter Leitung von Manfred Karge und Hermann Wündrich stand: Ursula Höpfner-Tabori, immer mit Lust zur Feurigkeit; Michael Kinkel in robust holzfällrigem Sachsen-Sound; Uli Pleßmann zurückhaltend sonor. Drei Stücke, ein Trost: Alles, was eine gewisse Dosis Absurdität enthält, versöhnt uns mit dem Leben.
Überall willkommen ist niemand. Und sei die Welt noch zu klein.