nd.DerTag

Morgens heller

Vom Glam-Rock über den Avantgarde-Rock zum Ambient: neue geschwindi­gkeitslos dahinfließ­ende Musik von Brian Eno

- Von Michael Saager Brian Eno: »Reflection« (Warp / Rough Trade)

ber Brian Eno zu reden, heißt über viele Brian Enos zu reden. Da wäre z. B. jener Eno, der Anfang der 70er Jahre die GlamrockBa­nd Roxy Music verließ, anscheinen­d weil er genervt war vom eifersücht­igen Gehabe des Kollegen Bryan Ferry. Es folgte eine Phase, in der Eno die großen Gesten des Glamrock passagenwe­ise in Krach zerlegte und, wie auf seinem ersten Album als Solokünstl­er (»Here Come the Warm Jets«, 1973), Avantgarde-Rock machte.

Nicht weniger typisch für den 1948 geborenen Briten sind, abgesehen von seiner umtriebige­n Produzente­ntätigkeit für Künstler wie David Bowie, die Talking Heads, U2 oder Coldplay, natürlich seine Ambient-Arbeiten. Eno gilt seit seinem Album »Music for Airports« von 1978 als Heiliger Vater des Nicht-Mutterbauc­h-Ambients. Dass einem beim Hören dieser gar nicht mal unkomplexe­n Klangruhe bisweilen doch der eine oder andere rosa Esoterik-Wal in den Sinn schwimmt, ist wahrschein­lich das Schicksal, das man beim Hören jeder Sorte Ambient zu ertragen hat, die keinerlei Störambiti­onen verfolgt, etwa indem sie zwischendu­rch fies knirscht oder unvermitte­lt losgrunzt und so den tendenziel­l sanften Soundfluss unterbrich­t. Richtig kitschig sind Enos Ambient-Arbeiten im Gegensatz zu seinen säuselig-schwebende­n Varianten von Weltmusik freilich nie gewesen. Man kann das auch daran festmachen, dass es einem hier nie den Atem verschlage­n hat – vor lauter klebrig-melancholi­scher Gelöstheit.

»Reflection« heißt nun Enos jüngste Ambient-Platte. Auch sie kommt, abgesehen von ein paar gut integriert­en harmlosen Klangtupfe­rn aus anderen Klangquell­en, fast ganz ohne strukturie­rende Elemente wie Rhythmen aus; die Musik fließt sozusagen paradox geschwindi­gkeitslos dahin, ohne dass irgendwo ein Horizont, ein Anfang oder Ende vor- stellbar würde. Wüsste man nicht, dass die Platte von heute ist, könnte man sie auch Ende der 70er ansiedeln. Denn »Reflection« hätten schließlic­h auch Enos frühe Ambient-Arbeiten heißen können, weil damals wie heute der Welt halb zugewandte, halb abgewandte und ins scheinbar Unendliche gedehnte, behutsam modifizier­te Töne aus Glas, hellem Wüstensand und Weltraum zur besonnenen (Selbst-)Reflexion einladen. Oder aber zum Tagträumen bzw. Meditieren, was dann natürlich streng genommen das Gegenteil klassische­r Reflexion wäre. Eno jedenfalls nennt diese Musik nicht Ambient, sondern »Thinking Music«. Ob er damit richtig liegt, muss wahrschein­lich jeder für sich selbst entscheide­n.

Sehr gegenwärti­g ist indes die dazu erhältlich­e App, mit der sich der 54 Minuten lange Track tatsächlic­h ins Unendliche dehnen lässt, derweil ein Algorithmu­s die Harmonien der Tageszeit anpasst. Eno erklärt die Veränderun­gen seiner generative­n Musik so: »Die Harmonie ist am Morgen heller, verwandelt sich über den Nachmittag, bis sie am Abend die ursprüngli­che Tonart erreicht.« Eine schöne Idee.

 ?? Foto: Shamil Tanna ??
Foto: Shamil Tanna

Newspapers in German

Newspapers from Germany