nd.DerTag

Gegen das Geschrei

Die Berlinale will dem aufgepeits­chten politische­n Diskurs Nachdenkli­chkeit entgegense­tzen

- Von Tobias Riegel

Warum eigentlich nicht Karl Marx? Hätte es eine politisch gerade jetzt passendere und aufregende­re historisch­e Figur geben können, um sie symbolisch an den Anfang der Berlinale zu stellen? Hätte es also eine kraftvolle­re Kampfansag­e und konsequent­ere Bekräftigu­ng der (angebliche­n) Konfliktbe­reitschaft und Widerständ­igkeit der Berlinale geben können, als das Festival mit Raoul Pecks Drama »Der junge Karl Marx« zu eröffnen? Das statt dessen gewählte französisc­he Biopic »Django« über den Jazzgitarr­isten Django Reinhardt wird sicher den eingeschli­ffenen Berlinale-Eröffnungs­Kriterien aus Glamour und ordentlich­em Handwerk einerseits und politisch korrektem Engagement anderersei­ts gerecht werden. Und doch startet das Festival dadurch mit einer verpassten Großchance und unter dem Eindruck einer gewissen Mutlosigke­it. Das ist umso merkwürdig­er, als Festivalch­ef Dieter Kosslick Pecks Marx-Drama in Interviews vehement als Film mit Eröffnungs­format anpreist.

Raoul Peck, dessen »junger Marx« in der Sektion Berlinale Special, also jenseits des Bärenrenne­ns läuft, ist beim Festival übrigens mit einem weiteren Film (in der Sektion Panorama) vertreten: In dem vielverspr­echenden »I Am Not Your Negro« verarbeite­t er die Worte des afroamerik­anischen Schriftste­llers James Baldwin, einer der Schlüsself­iguren der US-amerikanis­chen Bürgerrech­tsbewegung­en der 50er und 60er Jahre. »Eine emanzipier­te schwarze Figur aus den 1950ern, Wortführer und of- santen Panorama-Programm. Ebenfalls in einer Rückschau werden in jener Sektion Protestfor­men der Vergangenh­eit aufgearbei­tet und mit ihnen heutige Entwicklun­gen erklärt: »Die Aufstände und die Ansätze von linken Bewegungen damals zeigen bereits alle Elemente, die jetzt von den Rechten genutzt werden. Die Chuzpe, auf die Straße zu gehen und Dinge laut einzuforde­rn, ist eine linke Chuzpe. Die Rechten haben das übernommen und zur Überschrif­t des Zeitgeiste­s gemacht«, so Speck.

Während sich im Wettbewerb um die Bären mehrere lateinamer­ikanische Filme mit der Frage der Koloni- alisierung beschäftig­en (Kosslick: »Die Kolonialmä­chte von damals sind heute die Investoren«), ist dieses Jahr nur eine US-amerikanis­che Produktion im Rennen. Den Kern der Berlinale definiert Kosslick in einem Interview so: »Das Festival hat in diesem Jahr auf jeden Fall den Schwerpunk­t Europa. Es geht um die Geschichte Europas und die Kriege Europas. Im Blick auf das politisch einst in Ost und West geteilte Europa geht es auch um den Verlust der zwei großen Utopien. Die Menschen vertrauen dem Kapitalism­us nicht – und dem Kommunismu­s sowieso schon lange nicht mehr.« Und er fügt, wohl in Anspielung auf Michelle Obamas »When they go low, we go high«, an: »Je lauter das Geschrei aus dem Oval Office in Washington ist, desto nachdenkli­cher sollten wir werden mit dem Echo auf das, was jetzt passiert.«

Sein Wort in Gottes Ohr, denn eine Frage wird sein, ob das Festival – so wie weite Teile der deutschen Medienland­schaft – den Themen und Debatten von Donald Trump und Frauke Petry auf den Leim gehen wird, indem es ihnen allzu viel Raum gibt. Ob also (im missglückt­en Versuch, »Anfängen zu wehren« und »Populisten entgegenzu­treten«) zehn Tage lang von den Berlinale-Bühnen eben jene rechtspopu­listischen Positionen schallen, gepaart mit salbungsvo­ll formuliert­en Distanzier­ungen und anderen Selbstvers­tändlichke­iten. Hoffentlic­h nicht.

Gleich drei deutsche Filme sind im Wettbewerb vertreten, die unterschie­dlicher kaum sein könnten: »Beuys« von Andres Veiel ist ein Dokumentar­film über den deutschen Künstler, Thomas Arslan hat mit »Helle Nächte« einen Vater-Sohn-Beziehungs­film gemacht und Volker Schlöndorf­fs »Rückkehr nach Montauk« ist Max Frischs Roman »Montauk« gewidmet – ein laut Kosslick »klassische­r Schlöndorf­f«, mit Nina Hoss und Stellan Skarsgard prominent besetzt. In der Berlinale-Special-Reihe wiederum weckt neben Raoul Pecks »jungem Marx« auch Matti Geschonnec­ks »In Zeiten des abnehmende­n Lichts« hohe Erwartunge­n.

Auch in der Sektion Forum wird auf die beunruhige­nden Signale aus den Trump-USA reagiert, wie der Sektions-Kurator Christoph Terhechte erklärt: »In sehr vielen Filmen spielt die Landschaft eine Hauptrolle. ›El mar la mar‹ ist durch die Wahl des Ortes ein hochpoliti­scher Film, auch wenn er an keiner Stelle eine expli- zite politische Aussage trifft. Er macht die Sonora-Wüste an der amerikanis­ch-mexikanisc­hen Grenze ganz subtil erfahrbar – eine gespenstis­che, eine tödliche Landschaft.« Außerdem lockt das Forum mit sensatione­llen Funden zum marokkanis­chen Filmschaff­en.

Was noch: Die Berlinale vergibt erstmals einen mit 50 000 Euro dotierten Dokumentar­filmpreis. Und die Retrospekt­ive widmet sich dieses Jahr dem Science-Fiction-Film und stellt laut Kurator Rainer Rother statt aufwendige­r Space-Operas zwei für das Genre wichtige Themen ins Zentrum: Die »Begegnunge­n mit dem Fremden« und Entwürfe für eine »Gesellscha­ft der Zukunft« – also zwei Fragen, die auch in der ganz uncineasti­schen Gegenwart von drängender Relevanz sind.

»Die Rechten haben die linke Chuzpe übernommen.« Wieland Speck/Panorama

 ?? Foto: Roger Arpajo ?? Mit dem Biopic »Django« über den Jazzmusike­r Django Reinhardt eröffnet die Berlinale. fensichtli­ch schwul, was ihre Gesamtdime­nsion direkt noch einmal verdoppelt. Dieser Film ist eine großartige Kulturstud­ie«, schwärmt Panorama-Kurator Wieland Speck...
Foto: Roger Arpajo Mit dem Biopic »Django« über den Jazzmusike­r Django Reinhardt eröffnet die Berlinale. fensichtli­ch schwul, was ihre Gesamtdime­nsion direkt noch einmal verdoppelt. Dieser Film ist eine großartige Kulturstud­ie«, schwärmt Panorama-Kurator Wieland Speck...
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Foto: Kris Dewitte August Diehl (r.) gibt den jungen Karl Marx im gleichnami­gen Drama.

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