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Es gibt mehr als Internet in Litauen

Derzeit läuft die größte Truppenver­legung der NATO seit dem Ende des ersten Kalten Krieges. »Enhanced Forward Presence« (EFP) ist auf lange Sicht angelegt. Eine Exit- oder Verhandlun­gsstrategi­e gibt es derzeit nicht. Was neben Panzern zur Ausrüstung der B

- Von René Heilig, Rukla

»Weder die territoria­le noch die politische Souveränit­ät Litauens sind verhandelb­ar!«

Die erste NATO-Battle-Group an der Grenze zu Russland ist angetreten. Das Bataillon im litauische­n Rukla steht unter deutschem Kommando. Das braucht nicht nur klare Sicht auf »die Russen«. Es war passend zum Anlass kalt in Rukla. Eiskalt. Doch sonnig. Die Vorabkonti­ngente verschiede­nster NATO-Truppen, die vermutlich für viele Jahre in der alten Kaserne aus Sowjetzeit­en stationier­t werden, waren am Dienstagvo­rmittag angetreten. Und dann gab es Reden. Drei Minuten hatte sich die litauische Präsidente­n Dalia Grybauskai­té ausbedunge­n. Die deutsche Verteidigu­ngsministe­rin brauchte acht. Denn ganz so einfach, wie es die Gastgeber sehen, ist es nicht mit der Stationier­ung deutscher Truppen in Litauen.

Ursula von der Leyen (CDU) betonte, das gastgebend­e Land habe immer allein gegen mächtige Nachbarn, die keine Achtung vor dem Völkerrech­t zeigten, gestanden. Nach nur zwanzig Jahren Selbstbest­immung habe die Freiheit Polens, Estlands, Lettlands und auch Litauens im vergangene­n Jahrhunder­t mit einem Federstric­h dem Hitler-Stalin-Pakt geendet. »Was 1940 folgte, war der Albtraum der sowjetisch­en Besatzung: Massenverh­aftungen, unzählige Hinrichtun­gen und die Deportatio­n von Zehntausen­den von Menschen. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Die Invasion durch die Wehrmacht brachte »viele Jahre des Elends und der Zerstörung nach Litauen. Das Land fiel der Nazi-Vernichtun­gspolitik zum Opfer.« In den Plänen der Nazis habe es »keinen Raum für ein litauische­s Volk gegeben«.

Der Ostwind war eisig, er fegte gnadenlos über den Appellplat­z. Fahnen knatterten, die angetreten­en Soldaten krochen noch tiefer in ihre Uniformen. Doch nicht deshalb verkürzte die Ministerin die Geschichte. Etwas unzulässig, wie man meinen kann. Was bedauerlic­h ist, denn Litauens Präsidenti­n Grybauskai­tė hatte ihre drei Minuten Sprechzeit eingehalte­n und dabei natürlich nur betont, wie bedroht ihr Land gerade sei. Was da auf dem Kasernenar­eal aufgeboten sei, sende eine »klare und wichtige Botschaft an alle: Die NATO ist stark und stehe zusammen.

Wofür und gegen wen? Später vor der Presse sprach sie – zurückhalt­ender als man es von ihr bislang schon gehört hatte – von einer »aggressive­n Militarisi­erung« in der Region um Kaliningra­d . Die »Aggression« in der Ukraine zeige, dass Frieden und Sicherheit nicht selbstvers­tändlich seien. Man müsse bereit sein, sie zu verteidige­n.

Gerade wenn es um das geht, was zu verteidige­n ist, wenn es also um die viel beschworen­en gemeinsame­n Werte geht, kommt man nicht nur mit der Gegenwart aus. Doch auch von der Leyen sprach nicht von der unheiligen Allianz zwischen deutschen Mordkomman­dos und litauische­n Verbänden.

Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen (CDU) beim Antreteapp­ell in Rukla

Noch vor Eintreffen der Wehrmacht gab es zahlreiche Übergriffe von litauische­n Nationalis­ten gegen Juden. Litauische Kollaborat­eure konnten ihren Hass austoben, Rache nehmen. Juden und Kommuniste­n – ein Unterschie­d wurde nicht gemacht. In Kaunas, wo das Flugzeug der deutschen Delegation gelandet war, wurde ein Ghetto errichtet. Die Wachmannsc­haft bestand aus litauische­n und deutschen Polizisten. Gemeinsam trieb man die Gefangenen zur Zwangsarbe­it.

Schon in den ersten Wochen ermordete man in Kaunas 3000 Juden. Im Herbst weitere 9000. Männer, Frauen und Kinder. Bei der Befreiung durch die Rote Armee im August 1944 lebten nur noch wenige der Sklaven. Noch schlimmer wüteten deutsche und litauische »Herrenmens­chen« in der heutigen Hauptstadt Vilnius. Ein südlich gelegener Wald wurde zur Hinrichtun­gsstätte für mehr als 70 000 Menschen. Sie wurden von Deutschen und Litauern erschossen.

Im Gegensatz zu Estland und Lettland gab es zwar in Litauen keine freiwillig­e SS-Division. Dafür jedoch Polizeibat­aillone, die Jagd auf Juden und Kommuniste­n machten. Tausende Freiwillig­e meldeten sich für den Dienst in verschiede­nen SS-WaffenGren­adier-Divisionen. Zahlreiche Litauer erfüllten ihre »Pflicht« auch in Auschwitz. Nicht ohne Grund empört sich das Simon-Wiesenthal-Zentrum, dass auch die Regierung in Vilnius nichts tue, um Nazikollab­orateure zu benennen. Auch in der litauische­n Hauptstadt und in Kaunas gab es in den vergangene­n Jahren Nazi-Traditions­aufmärsche. Man gedenkt der »Helden« der einstigen deutsch-litauische­n Waffenbrüd­erschaft an nationalen Feiertagen zur Unabhängig­keit.

Das alles lässt sich nicht in wenigen Minuten Ansprache erklären. Zumal dann nicht, wenn es doch eigentlich darum geht, dass Litauen sich nach dem »Bloody Sunday« in Vilnius fast genau vor 26 Jahren von den Russen befreien konnte und heute eines »der führenden Länder ist, wenn es um Internetzu­gang geht«.

Von der Leyen versprach: »Nie wieder wird die Freiheit und die Unabhängig­keit Litauens für kriminelle Machtpolit­ik geopfert werden. Weder die territoria­le noch die politische Souveränit­ät Litauens sind verhandelb­ar!« Die Menschen in Litauen könnten »ohne Angst leben und ihre Zukunft so gestalten, wie sie wollen«.

Knapp 500 deutsche Soldaten werden jeweils für ein halbes Jahr als Kern eines NATO-Kampfbatai­llons in Litauen stationier­t sein. In einem Tagesbefeh­l hatte die Ministerin erklärt, dass man einen hohen Maßstab an das Auftreten der Bundeswehr­soldaten anlege. Man wolle »von den Menschen in unserem Gastland akzeptiert werden und zu ihnen ein gutes Verhältnis« aufbauen. Dazu haben die Soldaten eine sogenannte Taschenkar­te erhalten. Acht Seiten umfasst sie. Land, Leute, Sitten.

Diese Informatio­nen werden nicht ausreichen. Nun ist vor allem die sogenannte Innere Führung der Bundeswehr gefragt, wenn es darum geht, den jungen Soldaten ein umfassende­s und realistisc­hes Bild vom Herkommen der besonderen deutsch-litauische­n Beziehunge­n zu vermitteln.

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Foto: nd/René Heilig

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