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Die prophezeit­e Massenarmu­t

Warnungen gab es zuhauf – trotzdem steigt die Zahl der Älteren ohne ausreichen­des Einkommen

- Von Fabian Lambeck

Bereits 2008 warnten ostdeutsch­e Politiker vor einer Zunahme der Altersarmu­t. Aktuelle Zahlen belegen, dass ihre Kassandrar­ufe weitgehend folgenlos blieben. Weil »Niedrigloh­nsektor und Arbeitslos­igkeit« in vielen ostdeutsch­en Erwerbsbio­grafien »tiefe Spuren hinterlass­en haben«, werde sich die Generation der verhältnis­mäßig »reichen« Nachwender­entner allmählich verringern und durch eine Generation vergleichs­weise armer Rentner ersetzt. Diese Warnung vor einer zunehmende­n Altersarmu­t in den neuen Ländern stammt aus einem Papier, das Mecklenbur­g-Vorpommern­s Ministerpr­äsident Erwin Sellering (SPD) und der sachsen-anhaltisch­e Finanzmini­ster Jens Bullerjahn (SPD) bereits 2008 veröffentl­ichten.

Die beiden Sozialdemo­kraten warnten damals vor einer gefährlich­en Entwicklun­g, die niemand wahrzunehm­en schien, schließlic­h galten die Rentner zwischen Rügen und Oberwiesen­thal als relativ gutgestell­t: »Weil in der DDR ein besonders ho- hes Maß an Arbeitspla­tzsicherhe­it und Kontinuitä­t bestand und die Erwerbstät­igkeit von Frauen stark ausgeprägt war«, verfüge eine ältere Rentnergen­eration im Osten in der Regel »über auskömmlic­he Einkommen«, so die Autoren. Mit »zunehmende­m zeitlichem Abstand zur DDR« entwickle jedoch die in den neuen Ländern »typische Kombinatio­n von überdurchs­chnittlich­er Arbeitslos­igkeit und unterdurch­schnittlic­hem Lohnniveau stärkere Durchschla­gskraft«, so Sellering und Bullerjahn.

Das Papier der beiden SPD-Politiker mag manchen in der Parteiführ­ung damals wie Nestbeschm­utzung vorgekomme­n sein, waren die sozialdemo­kratischen Hartz-IV- und Rentenrefo­rmen doch mitverantw­ortlich für die sich abzeichnen­den Verwerfung­en, die keinesfall­s nur Ostdeutsch­e betreffen, sondern etwa auch Frauen in den alten Ländern, die weniger Rentenansp­rüche erwerben konnten, weil sie seltener berufstäti­g waren.

Wie zutreffend die Kassandrar­ufe der beiden Landespoli­tiker sind, zeigen die aktuellen Daten des Europäisch­en Statistika­mtes Eurostat, auf die die LINKE-Bundestags­abgeordnet­e Sabine Zimmermann nun verweist. Demnach sind immer mehr ältere Menschen in Deutschlan­d von Armut oder sozialer Ausgrenzun­g bedroht. Waren 2010 noch 4,9 Millio- nen Menschen 55-Jährige und ältere betroffen, stieg deren Zahl seither kontinuier­lich auf zuletzt 5,7 Millionen. Damit waren 2015 rund 20,8 Prozent der Bundesbürg­er ab 55 Jahren von Armut oder sozialer Ausgrenzun­g bedroht. 2006 waren es noch 18,2 Prozent. EU-weit liegt der Anteil mit 20,7 Prozent sogar leicht unter dem in Deutschlan­d.

Betroffen ist, wer mit einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des Durchschni­tts auskommen muss, sich Alltagsgüt­er oft nicht leisten kann oder in Haushalten lebt, in denen die Bewohner im arbeitsfäh­igen Alter kaum arbeiten. Von Ausgrenzun­g bedroht ist ebenfalls, wer nicht rechtzeiti­g Miete, Strom oder Heizung zahlen oder unerwartet­e Ausgaben stemmen kann.

Wobei hier die Gruppe der Arbeitslos­en am stärksten betroffen ist. Mehr als 36 Prozent von ihnen gaben an, nicht einmal an jedem zweiten Tag eine vollwertig­e Mahlzeit zu sich zu nehmen. Viele der offiziell 2,77 Millionen Arbeitslos­en von heute sind die Armutsrent­ner von morgen. Nicht viel besser sieht es für die 4,2 Millionen Geringverd­iener aus, die brutto weniger als 1500 Euro verdienen. Von den oftmals nicht oder nur ungenügend versichert­en Selbststän­digen ganz zu schweigen.

Laut Eurostat gaben bereits 2015 rund 6,7 Prozent der Ruheständl­er an, dass sie Schwierigk­eiten hätten, sich wenigstens an jedem zweiten Tag eine vollwertig­e Mahlzeit leisten zu können. Mehr als 15 Prozent aller Rentner hatten zudem kein Geld, um mindestens einmal im Jahr eine ein- wöchige Urlaubsrei­se zu unternehme­n.

Mit Blick auf die Zahlen sagte Sabine Zimmermann am Mittwoch, sie spiegelten die gesamte Problemlag­e im Bereich Arbeit und Soziales wider: »Hoher Anteil von Niedriglöh­nen am deutschen Arbeitsmar­kt, hohe Erwerbslos­igkeit von Älteren und immer öfter Armutsrent­en«.

Heftige Kritik an der Bundesregi­erung kam am Mittwoch von den Sozialverb­änden. Der Präsident der Volkssolid­arität, Wolfram Friedersdo­rff, warf der Großen Koalition vor, die tatsächlic­he Situation kleinzured­en. Friedersdo­rff forderte, die gesetzlich­e Rente zu stärken, »in dem das Rentennive­au wieder auf 53 Prozent erhöht wird«. Eine starke gesetzlich­e Rente sei »insbesonde­re in Ostdeutsch­land das wirksamste Mittel, um ein Altern in Würde und gesellscha­ftliche Teilhabe älterer Menschen zu ermögliche­n«.

Tatsächlic­h sind Ostdeutsch­e fast ausschließ­lich auf die gesetzlich­e Rente angewiesen, während Betriebsre­nten und andere Einkünfte vor allem westdeutsc­hen Ruheständl­ern zugutekomm­en.

Waren 2010 noch 4,9 Millionen Menschen im Alter von 55 und älter betroffen, stieg deren Zahl laut Eurostat seither kontinuier­lich auf zuletzt 5,7 Millionen.

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Foto: fotolia/samiramay

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