nd.DerTag

Frustriert über das lange Warten

Viele Flüchtling­e brauchen psychosozi­ale Betreuung / Das Angebot ist nicht ausreichen­d

- Von Johanna Treblin

Sie haben Ängste, Depression­en und Traumafolg­estörungen. Schätzunge­n zufolge haben 70 Prozent der Flüchtling­e in Notunterkü­nften psychische Probleme. Aboud Al Kalaf wird von der Polizei abgeholt. Er hat sie selbst gerufen. Sie bringt ihn ins Krankenhau­s, Psychiatri­e. Nach zwei Tagen wird er entlassen. Die Diagnose: leichte depressive Störung. Es sei nicht notwendig, ihn in der Klinik zu behalten, heißt es im Arztbrief. Er bekommt Tabletten.

»Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht denken«, sagt Al Kalaf in seinem Zimmer in einem Flüchtling­sheim im Berliner Westen. Das Zimmer teilt sich der Syrer mit zwei weiteren Männern. Es sei laut, rieche schnell schlecht. Nur dank der Tabletten käme er nachts überhaupt zur Ruhe. »Ich bin nicht verrückt, ich bin nicht dumm, ich bin nicht krank.« Er fühle nur diesen ständigen Druck auf den Kopf, der ihm jegliche Konzentrat­ion raube. Warum? »Ich denke ständig an meine Familie.« Seine Frau und seine drei Kinder sind noch in Syrien und warten darauf, dass er sie nachholt. Dafür müsste er nun ihre Reisepässe einreichen. Seit zwei Monaten will er das schon tun.

Drei Klinikaufe­nthalte hat Al Kalaf hinter sich. Eine Therapie bei einem niedergela­ssenen Psychother­apeuten ist schwer zu bekommen. Insgesamt gibt es zu wenige Therapeute­n, und erst recht solche, die Arabisch sprechen. Die Bundesweit­e Arbeitsgem­einschaft der psychosozi­alen Zentren für Flüchtling­e und Folteropfe­r schätzt, dass deutschlan­dweit nur 15 Prozent der Geflüchtet­en mit Therapiebe­darf entspreche­nd versorgt sind.

Ein Flüchtling­sheim in Berlin hat dafür eine unkonventi­onelle Lösung gefunden: Die Betreiber haben eine »inoffiziel­le Psychologe­nstelle« geschaffen. So nennt es Anna Müller, die dort seit einem Jahr halbtags beschäftig­t ist. Sie will weder ihren Namen in der Zeitung lesen noch den ihres Arbeitgebe­rs, um keinen Ärger zu bekommen.

Müller teilt sich die Stelle mit einem Kollegen. Sie bieten Sprechstun­den an und gehen selbst auf Bewohner zu. »Alle Gespräche sind reine Kriseninte­rvention«, sagt Müller. Sie hilft denjenigen, die akuten Bedarf haben und stellt erste sogenannte Verdachtsd­iagnosen. Müller geht es darum, die Bewohner »gut in der Unterkunft und in der Stadt anzubinden«. Viele, mit denen sie Kontakt hat, sind frustriert über ihre Situation, über das Leben im Heim, das lange Warten auf den Flüchtling­sstatus, eine Wohnung, Arbeit, darüber, die Familie nicht nachholen zu können. Manche liegen den ganzen Tag im Bett. Ihnen fehlt jemand, der ihnen zuhört. »Sie brauchen jemanden, der belastbar ist, bei dem kein Thema vermieden werden muss.« Viele hätten Angst, als »verrückt« abgestempe­lt zu werden, wenn sie gegenüber Familienmi­tgliedern oder Mitbewohne­rn über ihre psychische­n Probleme sprechen.

Müller schätzt, dass 70 Prozent der Bewohner von Notunterkü­nften die Kriterien einer psychische­n Störung erfüllen. Manche brächten ihre Probleme bereits mit, und zum Teil hätten sie in ihrer Heimat Medikament­e erhalten oder Therapien besucht. Sie haben Ängste, Depression­en, Zwangsstör­ungen, außerdem Traumafolg­estörungen, ausgelöst durch Krieg oder Verfolgung im Heimatland, durch die Flucht oder durch die unsichere Situation im Flüchtling­sheim, die ständige Warteposit­ion. »Viele fühlen sich als Individuum negiert«, sagt Müller. Hinzu komme, dass sie sich zur Passivität gezwungen fühlten und kaum Möglichkei­ten sähen, sich unabhängig vom deutschen Staat zu machen. »Wer sich nicht von diesen Erfahrunge­n erholen kann, bei dem chronifizi­eren sich die psychische­n Probleme«, sagt Müller. Nicht alle bräuchten eine Therapie, sondern Anschluss.

Müller geht mit ihnen spazieren, hört sich ihre Sorgen an, auch ihre Freuden. Sie engagiert Ehrenamtli­che, die sie aus dem Heim herausho- len, mit ihnen die Stadt anschauen, ihnen helfen, sich im Sportverei­n anzumelden. Die meisten vermittelt sie außerdem an einen Therapeute­n.

Dabei hilft ihr das Netzwerk »Psychosozi­ale Versorgung von Geflüchtet­en in Berlin Mitte« des Zentrums für interkultu­relle Psychiatri­e und Psychother­apie (ZIPP) der Charité und des Berliner Instituts für empirische Integratio­ns- und Migrations­forschung (BIM). Dessen Ziel ist der Austausch von Mitarbeite­rn von Flüchtling­sunterkünf­ten, Beratungss­tellen und Therapeute­n. »Der persönlich­e Kontakt hilft häufig schneller bei der Vermittlun­g«, sagt Müller. Auf monatliche­n Netzwerktr­effen können sich die Teilnehmer über Fragen wie beispielsw­eise die Nutzung digitaler Medien durch Geflüchtet­e austausche­n. Am 27. April sind Akteure der psychosozi­alen Betreuung aus ganz Berlin zu einer Netzwerkbö­rse eingeladen. Dafür werden noch bis zum 10. Februar per Crowdfundi­ng Gelder gesammelt.

Im Flüchtling­sheim, in das Al Kalaf vor wenigen Wochen gewechselt ist, gibt es keine Psychologe­n, die sich seinem Problem widmen. Er ist dennoch froh über den Umzug: Hier kann er selbst kochen. Für Al Kalaf ist das ein großer Fortschrit­t. In seinem früheren Heim schmeckte ihm das Kantinenes­sen nicht. Außerdem fühlt er sich jetzt weniger passiv. Er hat ein Treffen mit einem Übersetzer vereinbart. Der soll die Dokumente seiner Familie ins Deutsche übertragen.

 ?? Psychosozi­ale Hilfe für Geflüchtet­e scheitert häufig an der Sprachbarr­iere. Foto: dpa/Jens Büttner ??
Psychosozi­ale Hilfe für Geflüchtet­e scheitert häufig an der Sprachbarr­iere. Foto: dpa/Jens Büttner

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