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Dreißig Mal der allererste Satz

Greifswald­er Uni bewahrt Wolfgang Koeppens Erbe

- Dpa/nd

Greifswald. Quälende Schreibkri­sen überschatt­eten das Schaffen des in Greifswald (Mecklenbur­gVorpommer­n) geborenen Literaten Wolfgang Koeppen (1906 bis 1996). Im Greifswald­er KoeppenArc­hiv, das den Gesamtnach­lass beherbergt, lagern neben Briefen, Manuskript­en und seiner Privatbibl­iothek viele Belelge für sein oft verzweifel­tes Ringen um Worte – und für die Schreibblo­ckaden des Schriftste­llers. Nun gehen unveröffen­tlichte Typoskript­e des Autors aus dem Archiv nach Zürich zu einer Ausstellun­g, die den Schreibrau­sch thematisie­rt. Ein Widerspruc­h? Keineswegs.

»Meine Mutter fürchtete die Schlangen. Ich finde nicht weiter. Dass nichts entsteht. Immer fällt mir dieser Satz ein. Ich scheitere an ihm. Ich schreibe an ihm. Die Seiten häufen sich. Meine Mutter fürchtete die Schlangen.« Diese Sätze aus einem undatierte­n Typoskript Koeppens , der zu den bedeutends­ten Autoren Nachkriegs­deutschlan­ds gehört, stammen vermutlich aus den 1960er Jahren. Mehrere Typoskript­e – vom Autor selbst maschinell verfasste Texte – im Koeppen-Archiv der Uni Greifswald beginnen mit diesem Satz. Und in einem Notizbuch Koeppens steht er auf der ersten Seite: »Meine Mutter fürchtete die Schlangen.«

Erst in Koeppens Band »Jugend«, den er 1976 nach 15-jährigem literarisc­hem Schweigen herausbrin­gt, findet der Satz dann in seiner endgültige­n Form in die Öffentlich­keit. Er eröffnet das autobiogra­fische Prosawerk, in dem Koeppen hochverdic­htet, mit vielen Assoziatio­nen angereiche­rt, in 53 montageart­igen Sequenzen exemplaris­ch eine Jugend in seiner Geburtssta­dt Greifswald zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts beschreibt. Bekannt geworden war Koeppen zuvor durch bahnbreche­nde Nachkriegs­romane: »Tauben im Gras« (1951), »Das Treibhaus« (1953) und »Der Tod in Rom« (1954).

Ab 10. Februar werden die Typoskript­e und das Notizbuch aus dem Koeppen-Archiv in einer Ausstellun­g des Züricher Literaturm­useums »Strauhof« gezeigt. Warum findet sich Koeppen in einer Schau mit dem Titel »Schreibrau­sch. Faszinatio­n Inspiratio­n«? »Das mag auf den ersten Blick verwunderl­ich sein«, räumt der Greifswald­er Professor für Neuere deutsche Literatur und Koeppen-Forscher, Eckhard Schumacher, ein. Doch die Schreibkri­se sei ein Gegenpol zum Schreibrau­sch. Beide – Rausch und Krise – seien Teile des literarisc­hen Entstehung­sprozesses.

Außerdem, sagt Schumacher, sei aus der Sicht des Nachlasses das literarisc­he Verstummen Koeppens nicht zu belegen. »Es ist ein Schreiben, das immer wieder neu ansetzt, Koeppen beginnt neue Projekte, die er allesamt aber nicht über eine Konzeption­sphase hinausbrin­gt.« Schumacher vermutet als Grund für die vielen in den Anfängen stecken gebliebene­n Versuche: Koeppen scheiterte auch an seinen eigenen hohen Ansprüchen.

Allein für den ersten Satz von »Jugend« finden sich laut Schumacher 30 bis 40 Ansätze, für die Eingangsse­quenz gar etwa 100 Versuche. »Da wechselt die grammatika­lische Struktur, da wechselt die Perspektiv­e, da werden Sätze ausgetausc­ht, da wird verdichtet«, sagt der Wissenscha­ftler. Es sei ein Ringen und ständiges Arbeiten an einem für Koeppen gültigen Werk. »Dieses Ringen, das sich nach außen als Krise darstellt, kann auch etwas Rauschhaft­es haben.«

Auch Autoren von Weltrang wie Franz Kafka, Ernest Hemingway oder Fjodor Dostojewsk­i litten an Schreibblo­ckaden. Der Schriftste­ller Wolfgang Koeppen steht mit seinem Ringen um die gültigen Sätze nicht allein da.

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