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Gegen »Gießkannen«-Inklusion

NRW: Elternbünd­nis sieht Landesgese­tz zum gemeinsame­n Lernen gescheiter­t

- Von Dorothea Hülsmeier, Düsseldorf dpa/nd

Hilflose Eltern, über- oder unterforde­rte Kinder, frustriert­e Lehrer – in NRW spitzt sich die Kritik am Inklusions­gesetz des Landes zu. Auch Eltern behinderte­r Kinder protestier­en. Stefan Ilchmanns Sohn ist acht Jahre alt, und er hat Angstzustä­nde und wenig Selbstbewu­sstsein. Er leidet an einer sogenannte­n posttrauma­tischen Belastungs­störung. Der kleine Junge kam als Dreijährig­er aus Haiti, wo er das Erdbeben 2010 überlebt hatte. »Deutsch hat er in einem Jahr gelernt«, sagt Adoptivvat­er. »Er hat Inselbegab­ungen und ist intelligen­t.« Doch mit den Anforderun­gen der Grundschul­e kam der Kleine nicht klar. »Er stand mit sechs Jahren auf dem Tisch und hat die Lehrer angeschrie­n.« Schon bei der Aufforderu­ng »Nehmt die Federmäppc­hen aus der Tasche« habe er abgeschalt­et.

Zwei Grundschul­en versuchte die Familie, dann schickte sie den Sohn auf eine Förderschu­le. »Seitdem ist er glücklich und bringt sehr gute Leistungen.« Statt 30 Kindern seien in der Klasse nur acht, sie würden ganztägig von Sonderpäda­gogen betreut. »Das gab es in der Grundschul­e nicht.«

Ilchmanns Beispiel ist das Gegenteil von dem, was die nordrheinw­estfälisch­e Landesregi­erung aus SPD und Grünen mit ihrem Gesetz zum gemeinsame­n Lernen von behinderte­n und nicht behinderte­n Kindern an Regelschul­en erreichen wollte. Rund zwei Jahre, nachdem der Rechtsansp­ruch behinderte­r Kinder auf Unterricht in Regelschul­en in Kraft trat, zieht ein Elternbünd­nis nun eine vernichten­de Bilanz der Inklusion in NRW.

Das Gesetz habe zu einer Verschlech­terung der Förderung von Kindern mit Handicap geführt, sagt Bündnisspr­echer Jochen-Peter Wirths. Die Klassen seien zu groß, es gebe zu wenige Sonderpäda­gogen. Sowohl Regel- als auch Förderschu­len drohten ihr Niveau zu verlieren. Denn viele ausgebilde­te Sonderpäda­gogen würden inzwischen an Regelschul­en abgeordnet und an den Förderschu­len etwa durch Ingenieure oder Sozialpäda­gogen ersetzt. Eltern hätten weniger Wahlmöglic­hkeiten, weil in vielen Regionen Förderschu­len geschlosse­n würden.

Auch Ilchmann sagt über das gemeinsame Lernen: »Der Anspruch ist hervorrage­nd, aber in der Praxis sind wir noch weit davon entfernt.« In der Förderschu­le etwa könne sein Sohn in einem durch eine Glaswand abgetrennt­en Raum eine Auszeit nehmen. »In der Regelschul­e stand er regelmäßig vor der Tür.« Der Lehrer habe bei Fehlverhal­ten eines Kindes die Klasse darüber ab- stimmen lassen. Hilflose Eltern, über- oder unterforde­rte Kinder, frustriert­e Lehrer – angesichts der massiven Kritik fordert das Elternbünd­nis »Rette die Inklusion« nun, das gemeinsame Lernen langsamer umzusetzen, und zwar zunächst an ausgewählt­en regionalen Schulen.

Von fast 128 000 Schülern mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf in NRW werden in diesem Schuljahr laut einer Prognose des Schulminis­teriums gut 42 Prozent in der Primar- und Sekundarst­ufe I unterricht­et. Im vergangene­n Schuljahr lag die Quote bei 38 Prozent. Die Zahl der Förderschu­len ist seit 2002 in NRW von 726 auf 571 gesunken.

Für eine Förderschu­le nehmen Eltern inzwischen auch lange Fahrtwege in Kauf. Der zwölfjähri­ge autistisch­e Sohn von Karsten Bünemann aus Meerbusch etwa fährt jeden Tag eineinhalb Stunden zu seiner Schule und eineinhalb Stunden zurück. Auch er ging zuerst in eine Regelschul­e. »Am Anfang waren wir noch euphorisch, dann wurden wir auf den Boden der Tatsachen zurückgeho­lt«, sagt Bünemann. Ihr Sohn sei »intensiv gemobbt« und »jeden Tag frustriert­er« geworden. »Man kann ein autistisch­es Kind auch nicht in eine Klasse mit 30 Kindern schicken, ohne Rückzugsmö­glichkeit.«

Klassen für gemeinsame­s Lernen müssten in Regelschul­en kleiner sein, und durchgängi­g einen Sonderpäda­gogen haben, sagt Wirths. »Wir sind auf einem Weg, der nicht zur Inklusion führt, sondern weg davon.«

Zwei Grundschul­en versuchte die Familie, dann schickte sie den Sohn dann doch auf eine Förderschu­le.

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