nd.DerTag

Gegen den Strich – wie mit der Klobürste

»Der eingebilde­te Kranke« von Molière an Berlins Schaubühne, Regie: Michael Thalheimer

- Von Hans-Dieter Schütt

Nicht die Freiheit erhebt dich, sondern die Befreiung. Nicht die Gesundheit, sondern die Gesundung. Nicht der Tod schreckt, sondern das Sterben. Denn das Sterben gehört noch zum Leben, ist also im Gegensatz zum Tod – eine Erfahrung. Die weh tut. Einbildung erweist sich da als gängigste Medizin: Red von den Dämonen, schon sind sie verscheuch­t. Pfeif im Wald, schon fliehen dich alle Ängste. Bild dir Krankheite­n ein, schon fühlst du dich besser. Beschwör das Sterben, und der Tod verschont dich? Die Illusion als Infusion. Wer’s glaubt, ist wirklich selig. Wie etwa der Utopist. Oder wie jeder andere, der vor allem deshalb glaubt, weil er einfach nicht glauben will, dass auch er dran glauben muss.

Der da, der glaubt nicht, er weiß. Der da in seiner winzigen weiß gekachelte­n Zelle. Die wie ein Pendel hin- und herschwing­en kann: der feste Boden unter den Füßen – auch so eine Illusion. Der da, Argan, in seinem festgeschr­aubten Rollstuhl, der kotzt, der furzt, der scheißt in die Windel, der schwitzt, der säuft das Kunstblut, um es an die weißen Wände zu spritzen. »Der eingebilde­te Kranke«. Peter Moltzen verwandelt den Zellenbode­n sudelnd in einen Schmierfil­m und vollführt ein graziles Ballett der aufgekündi­gten Standfesti­gkeit. Mit Spagatschr­eiarie.

An der Berliner Schaubühne inszeniert­e Michael Thalheimer Molières letztes Stück (Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Michaela Barth). Moltzen in der Titelrolle, wie ein Verwandter des artistisch mechanisch­en, manisch expressive­n Ekke- hard Schall: schmuddeli­g, mit Augen, die zwischen Misstrauen und Giftsprühe­rei hin- und herrasen wie eine Rolle Stacheldra­ht; mit einem böse zusammenge­kniffenen Maul, an dessen Enden schwerste Gewichte zu hängen scheinen. Er keucht, kräht, brüllt. Zunächst nicht Text von Jean Baptiste Molière, sondern von Andreas Gryphius. »Mord! Zeter! Jammer!« Der stinkt und dreckt uns an. »Angst! Kreuz! Marter!« Er röhrt und raunt. »Plagen! Pech! Folter!« Er jammert und wimmert. »Henker! Flamm! Stank!« Er blökt und blafft. »Geister! Kälte! Zagen!« Er flucht, abstoßend wie Galle. Ein japsendes Elendsbünd­el mit Majestätsm­acke. Angstfress­e und Peinigervi­sage. »Ach vergeh!«

Des deutschen Barockdich­ters Gedicht »Die Hölle« als Stoßgebet der Weltbeschr­eibung. Nichts Listiges, nichts Lustspieli­ges. Schon zu Beginn: Endabrechn­ung. Und zwar mit aller Existenz, in der das Leben gestorben und nur immer das Sterben gelebt wird. Ein Sterben von Liebe, Ehrlichkei­t, Selbstacht­ung. Gryphius mutet an wie Dante, wie Bosch. Die Welt ist zum Speien. Wer aber kotzt, bekennt sich zur Zukunft: Es ist noch nicht alles im Eimer.

Kommen wir von hier aus gleich zum Schluss des Abends. Da begegnet Argan seinem Bruder. Fragt ihn, was man denn nun ernsthaft tun solle, wenn man krank ist, und sein Bruder antwortet: »Nichts!« – »Was denn, nichts?« – »Nichts.« Der Weisheit zumindest vorletzter Schluss: Die Natur der Dinge auszuhalte­n, ist offenbar heilsamer, als die Welt unbedingt verändern zu wollen. Die Welt oder sich selbst. So jedenfalls sieht sie aus, die Welt. Scheiße und Blut. Rutsch bloß nicht drauf aus! Das darf man schon Leben nennen? Thalheimer stellt diese Frage kalt, geradezu herzlos. Er inszeniert kalt und lässt kalt.

Nein, nicht ganz. Denn jetzt, zum Schluss, offenbart die Aufführung ein spezielles Grauen. Das Grauen kommt just von diesem Bruder Argans. Es ist eine weiß und schleimig umwickelte Mumie, das Gesicht ein schwarzes Loch. Kay Bartholomä­us Schulze schnauft, schnarcht, schlängelt sich, ein Zombie, ein Bruder Tod, ein Unerträgli­chkeitsbil­d, ein Missbildun­gswesen, ein Schauerlic­hkeitskasp­er. Aber auch: der wahrhaft Leidende, Zerschlage­ne, Verstümmel­te, der zu Güte aufruft. Den Einsamsten frag, was Liebe sei! Und noch einmal, endlich wieder allein in seiner Zelle, wird Moltzen das Gryphius-Gedicht sprechen. Es denkend sprechen. Diesmal sehr leise, sehr traurig. Die Worte wie Wunden, die darum bitten, nicht gepflegt, nicht mit Pflastern versehen zu werden.

Starker Anfang, starker Schluss. Und dazwischen? Anderthalb Stunden das Stück – über jenen Hypochonde­r Argan, der in hysterisch­er Sucht nach Leiden zum Familienty­rannen wird, der sogar seine Tochter mit einem Arzt zwangsverh­eiraten will, nur, um dauerhaft in der Nähe von Diagnosen, Medikament­en und Klistieren sein zu können. Geifer gegen den Medizynism­us des Arztgewerb­es, Vaterliebe als Geschäftsg­ebaren, Egoismus kontra Zuneigung. Thalheimer bietet die Kombinatio­n einer schreckens­irren Seelenverk­rüppelung mit den Techniken eines gröbstmögl­ichen Theaters.

Jule Böwe, Alina Stiegler, Iris Becher, Felix Römer, Ulrich Hoppe, Renato Schuch und Regine Zimmermann spielen mit klarem Auftrag: verballhor­nen, überdrehen, immer druff ohne Abtönung. Dumpfgrell­e Gaukelei und Groteske, dahinter stets die wehe Dünnhäutig­keit des fürchterli­ch verlorenen Menschen. Diese Familie: eine Karikatort­ur. Bibbernde Blödiane. Lappige Lemuren. Würgendes Winseln, zappelndes Züngeln, galliges Geifern, pappiges Posieren. Struwwelpe­ter-Ästhetik mit Cowboystie­feln, Rollschuhe­n und Oben-ohne-Kleidern. Kunstwanst und Halskrause, Reifrockge­stell und Windelschn­üffeln. Argans dickes Gemächt: ein Versteck für den – Geldsack. Wo’s erotisch werden will, triumphier­t die Antisinnli­chkeit allen Fleisches.

Wären wir in der Zeichnerwe­lt – es sähe wohl aus, als betriebe George Grosz Schändungs­training gemeinsam mit Gerhard Haderer. Thalheimer taucht Typen in seine Säuren der Überzeichn­ung – und siehe, sie lösen sich auf in Kenntlichk­eit. Er inszeniert­e Folterspur­en in lauter ungeliebte­n Herzen. Auch wenn diesmal jene innere Spannung fehlt, die seinen »Tartuffe« am gleichen Hause eine so durchgängi­ge elektrisie­rende Kraft gab und immer wieder schreckens­komische Höhepunkte schuf. Hier dominiert ein gewisses Gleich- maß des Ekligen und Abgeschmac­kten. Ein Lustspiel gegen den Strich gebürstet. Mit der Klobürste sozusagen. Selten, sehr selten, dass einem ein Thalheimer zu lang vorkommt.

Aber der Anfang, aber der Schluss! Da schlägt die Aufführung ihren Bogen beklemmend von der Verachtung zur Trauer. Und der Regisseur ist eine elegische Viper. Zum durchgängi­gen, an- und abschwelle­nden Orgel-Requiem-Sound von Bert Wrede tritt die schwarze Hoffnung seines Theaters hervor: Unsere funktional­e Vernunft möge in Unruhe versetzt werden, damit wir die dunkle Rückseite der Weltbeherr­schung erkennen. Skepsis also! Um nämlich jeder Zuversicht einen Rahmen zu weisen, in dem sie nicht durch Übermaß verheizt wird. Thalheimer ist ja in seinen besten, bösartig vergnügten Versuchen ein Zeichenset­zer: Wer sich die Mühe macht, über die verhasste Welt auch nur ein Wort zu verlieren, überwindet schon alle Gleichgült­igkeit – ja, ein absoluter Satz über die absolute Verzweiflu­ng wird in dem Moment unwahr, da er ausgesproc­hen oder in ein Bild gesetzt wird.

Und bis zum Verlöschen des Lichts wird Argan jetzt seine Kleinzelle ausmessen, von Wand zu Wand stapfen, stampfen, staken, stolpern, wie durch alle Himmelsric­htungen der Erde, und den Schädel immer wieder gegen die Kacheln rammen. Als sei just dies das löbliche Ende all unserer Probleme mit all dem Verfehlten, Unabgegolt­enen, Fremden unseres Weltaufent­haltes: sich Lösungen im wahren Sinn des Wortes – aus dem Kopf zu schlagen.

Geifer gegen den Medizynism­us des Arztgewerb­es, Vaterliebe als Geschäftsg­ebaren, Egoismus kontra Zuneigung

Nächste Vorstellun­gen: 13. bis 16. Februar

 ?? Peter Moltzen in der Titelrolle: schmuddeli­g, mit Augen, die zwischen Misstrauen und Giftsprühe­rei hin- und herrasen; mit einem Maul, an dessen Enden schwerste Gewichte zu hängen scheinen Foto: Katrin Ribbe ??
Peter Moltzen in der Titelrolle: schmuddeli­g, mit Augen, die zwischen Misstrauen und Giftsprühe­rei hin- und herrasen; mit einem Maul, an dessen Enden schwerste Gewichte zu hängen scheinen Foto: Katrin Ribbe

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