»Das Schicksal spielt mit einem«
Kris van Steenberge: Ein dicker Roman, der mitreißen, festhalten kann
Verlangen« – der Titel bezeichnet auch das, was man beim Lesen fühlt: Verlangen, die Lektüre so schnell wie möglich fortzusetzen, wenn man sie anderer Pflichten wegen unterbrechen musste. Weil man unbedingt wissen will, wie es weitergeht. Und wirklich, so viel sei verraten, eine Überraschung hat sich der Autor bis zum Schluss aufgespart. Indes, wir hätten es ahnen können …
Das Dorf Woesten in Westflandern gibt es tatsächlich. Doch Kris van Steenberge bekundet, dass er Geschichten erzählt und kein Historiker ist. Aber vielleicht wurden dort wirklich einst Zwillinge geboren – der eine Junge, Valentijn, schon als Säugling hübsch, der andere aber mit einem durch die Geburtszange so entstellten, verwüsteten Gesicht, dass er fortan nur »Namenlos« hieß. Und ihre Mutter könnte wirklich ermordet worden sein.
Sei es, wie es sei: Wir müssen nicht wissen, ob der Roman einen realen Hintergrund hat. Zwei ungleiche Brüder – ein Motiv, das wir kennen, das Rätsel eines Mordes sowieso. Zweifellos spielt der Autor mit den Mustern des Unterhaltungsromans, aber er tut es so einfallsreich, so bildhaft, mit einer so poetischen Sprache, dass der Erfolg seines Romans nicht erstaunt. »Verlangen«, so erfährt man aus dem Klappentext, wurde 2014 mehrfach als das beste flämische Debüt ausgezeichnet und wird derzeit verfilmt.
»Das Schicksal spielt mit einem.« Diese Aussage mag banal erscheinen, aber kennt nicht jeder die unerwarteten Wechselfälle, denen man im Nachhinein einen Sinn zuschreiben mag oder eben nicht. »Es macht dich krank, es heilt dich, beweihräuchert dich, lobt dich in den Himmel, macht dich runter, verbrennt, zerschmettert, bejubelt, verherrlicht, kränkt und tröstet.« Ja, das alles ist im Buch. Am Anfang ist es die Sehnsucht eines jun- gen, begabten Mädchens, aus der Enge ihres Elternhauses auszubrechen, und die eines Jungen, der Armut zu entrinnen. Kommen sie zusammen? Nur für Momente. Es erstaunt uns nicht, was für differenzierte Standesunterschiede es in diesem Dorf und in der Stadt Brüssel gibt. Nicht standesgemäß ist es, dass der junge Arzt Guillaume Duponselle die schöne Elisabeth zur Frau nimmt. Erst glücklich, dann unglücklich macht er sie, nachdem sie den missgestalteten Sohn geboren hat. Das kennt man aus dem Märchen. Aber hier ist alles mit feinen Fäden an Realität geknüpft. Jede der Gestalten trägt Früheres mit sich herum – Wunschvorstellungen und mehr noch Belastendes, was die anderen wiederum nicht wissen.
Auch wenn das Buch Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und kurz nach dem Ersten Weltkrieg endet, ist es ein Werk des 21. Jahrhunderts, allerdings eines, das den Rückgriff auf Romantraditionen nicht scheut. Der Kunstgriff: Mitunter die gleichen Er- eignisse werden in vier Kapiteln aus der Sicht von Elisabeth, Guillaume, Valentijn und Namenlos geschildert. Im letzten Kapitel, als beide Eltern tot sind, wechseln sich die Brüder mit ihren Wahrnehmungen ab. Und das Schicksal, dem vorher ein »Spiel ohne Sinn« bescheinigt wurde, fügt sich nach des Autors Willen, der auch dem des Lesers entgegenkommt.
Soll man es Kris van Steenberge etwa übelnehmen, dass er eine einigermaßen (mehr kann es nicht sein) gute Wendung sucht, nachdem seine Gestalten im Krieg so schrecklich gelitten haben, dass Gerechtigkeit hergestellt, ein Vermächtnis erfüllt wird? Manche Schuld lässt sich ohnehin nicht tilgen. Der feinsinnige Künstler Herr Funke, den die kleine Elisabeth schon auf der ersten Seite bewundert, er wäre als Deutscher beinahe einem Lynchmord durch die Dorfbewohner zum Opfer gefallen und hat sich dann im Gefängnis erhängt.
Allein dieser Mann hätte einen Roman tragen können, und vielleicht hat der Autor sogar erwogen, ein Kapitel aus seiner Sicht zu erzählen. Dem Leser bleibt es unbenommen, im Nachhinein für sich zusammenzufügen, was an Details über ihn im Buch verstreut ist.
Und es gibt noch weitere Gestalten, die uns plastisch werden. Man hat es vor Augen, das Leben im ländlichen Flandern. Die Menschen dort sind doch gar nicht weit von einem selbst entfernt: Den Alltag bestehen, Schwieriges ertragen und dabei von Leidenschaften und Wünschen umgetrieben sein. »Ich mag so einen Wind«, sagte die kleine Elisabeth zu Herrn Funke. »Er pustet einem zugleich den Kopf leer.« Wovon ihr Kopf denn so voll sei? »… also mein Kopf ist vor allem voll von den Sachen, die ich nicht weiß.« Er lächelte: »Sachen, die man nicht weiß, sind die schönsten. In ihnen steckt Verlangen.« Kris van Steenberge: Verlangen. Roman. Aus dem Niederländ. v. Waltraud Hüsmert. Klett-Cotta. 438 S., geb., 24,95 €.