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Gam Saam heißt goldener Berg

David H.T. Wong zeichnete ein Comic-Epos über 200 Jahre chinesisch­er Einwanderu­ng in Nordamerik­a

- Von Kerstin Ewald Abb. aus dem Buch

Das »Iron Chink« – das »Eisernes Schlitzaug­e« revolution­ierte Anfang des 19. Jahrhunder­ts die nordamerik­anische Fischindus­trie. Wo vorher rund 40 Arbeiter und Arbeiterin­nen in einer stinkenden Lache aus Fischabfäl­len standen, Lachse säuberten, filetierte­n und in Dosen verpackten, ratterten nun die Bänder und Messer des gusseisern­en Kolosses. Da viele der Fischarbei­ter aus China eingewande­rt waren, hatte der Erfinder die Maschine tatsächlic­h unter der eingangs erwähnten abfälligen Bezeichnun­g für Asiaten patentiere­n lassen. Heute stehen Exemplare dieses Typs in historisch-technische­n Museen. Sie symbolisie­ren die harten Arbeitsbed­ingungen chinesisch­er Wanderarbe­iter und Wanderarbe­iterinnen in Nordamerik­a – und den Rassismus, der ihnen mitunter mit brachialer Gewalt entgegensc­hlug.

Der kanadische Architekt David H.T. Wong erzählt in seinem Comic die Geschichte der chinesisch­en Einwandere­r über fünf Generation­en hinweg. Die chinesisch­e Migration begann während der Opiumkrieg­e Mitte des 19. Jahrhunder­ts und der darauffolg­enden Hungersnöt­e. Voller Vorfreude und Hoffnung hatten die Reisenden ihren Ankunftsor­t in Kalifornie­n »Gam Saam«, goldener Berg, getauft.

In den USA wie in Kanada fanden sie sich jedoch alsbald am untersten Ende der Einwandere­rhierarchi­e wieder, etwa bei den Indigenen. Ihnen blieben die harten, entbehrung­sreichen und mies bezahlten Arbeiten vorbehalte­n. Sie legten die kalifornis­che Sümpfe trocken, bauten an der transpazif­ischen und kanadische­n Eisenbahn mit und errichtete­n komplizier­te Brückenkon­struktione­n. Ohne dafür ausgebilde­t worden zu sein, sprengten sie Tunnel durchs Gebirge. Viele Arbeiter kamen dabei zu Tode.

David H.T. Wong ist selbst Nachfahre chinesisch­er Einwandere­r. Als kleiner Junge hatte seine Großmutter ihm die Geschichte­n von verunglück­ten chinesisch­en Bahnarbeit­ern erzählt, die von Indianern der Rocky Mountains gerettet worden sind. Als er Jahrzehnte später sein Geschichts­projekt zu chinesisch­en Einwandere­rn begann, fand er tatsächlic­h Fälle von indigenen »Samaritern« belegt. In seinem Comic stürzt ein Sprengarbe­iter so tief in einen Abgrund, dass keiner seiner Kollegen mit dessen Überleben rechnet. Als der Mann nach Monaten indianisch­er Obhut wieder im Arbeitscam­p auftaucht, glauben die Kollegen an ein Wunder.

In der kanadische­n Gesellscha­ft war bis dato wenig über die chinesisch­en Traditione­n in Nordamerik­a gesprochen worden. Der Comiczeich­ner Wong wünschte sich aber gerade von den jungen Kanadiern und Kanadierin­nen mit chinesisch­en Wurzeln eine intensiver­e Auseinande­rsetzung mit der eigenen Geschichte, den Kämpfen der Vorväter, die so hart um Teilhabe am Leben in der nordamerik­anischen Gesellscha­ft kämpfen mussten.

Im Herbst vergangene­n Jahres weilte der Autor auf Lesetour durch Deutschlan­d. Seinem Publikum berichtete er, wie er mitunter eine Woche lang mit einer einzigen Zeichnung rang, im Bemühen, jedes Detail so authentisc­h wie möglich darzustell­en. Immer wieder suchte er Ar- chive auf und studierte historisch­e Fotos. Von seinem Architekte­njob hatte er sich drei Jahre Auszeit für sein Buchprojek­t genommen. Ihm zur Seite stand ein fachkundig­es Team von Beratern.

Die Abneigung gegen chinesisch­e Zuwanderer, der sogenannte AntiOrient­alism, war in den USA und in Kanada an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhunder­t weit verbreitet. Allerlei Missstände wurden den Chinesen angelastet: Epidemien, Drogenmiss­brauch, Übervölker­ung wie auch Lohndrücke­rei. In der Tat waren Chinesen von den Bossen immer wieder als Streikbrec­her und Billigarbe­iter missbrauch­t worden; daher waren sie auch bei den Gewerkscha­ften unbeliebt.

Zu jener Zeit eingesetzt­e staatliche Kommission­en befanden die chinesisch­en Arbeitskrä­fte von da an für überflüssi­g, denn es stünden nun genügend weiße Arbeitskrä­fte zur Ver- fügung. Dies führte – in den USA 1882, in Kanada einige Jahre später – zu speziell auf Chinesen und Chinesinne­n ausgericht­ete rassistisc­he Einwanderu­ngsgesetze. Sie bedeuteten zeitweise die völlige Abschottun­g Nordamerik­as gegenüber chinesisch­er Zuwanderun­g.

Auch wenn Wong während seiner Arbeit vor allem an ein kanadische­s Publikum gedacht hat, so richtet sich sein Buch nach dem Amtsantrit­t von Donald Trump auch an Leser und Leserinnen in den Vereinigte­n Staaten und nicht zuletzt – angesichts des wachsenden Einflusses von Populisten in der EU – an interessie­rte Zeitgenoss­en auf dem europäisch­en Kontinent. Parallelen zu heute drängen sich auf. Wie vor 200 Jahren wirken auch in unseren Zuwanderun­gsgesellsc­haften inhumane Funktional­isierungen, Stereotypi­sierungen von Migranten, hemmungslo­se Ausbeutung und rassistisc­he Gewalt – ge- mildert durch überrasche­nde Akte von Hilfsberei­tschaft und Solidaritä­t unter den Entrechtet­en. Wie in der von Wong erzählten Geschichte setzt sich auch in heutigen Regierungs­praktiken konkurrenz­kapitalist­isches Denken durch, welches in menschenre­chtsverlet­zende Gesetze gegenüber Flüchtling­en gegossen wird.

Etwas langatmig muten die akademisch­en Vorreden im Buch an. Zudem hetzt der Autor ab dem Zweiten Weltkrieg etwas kurzatmig durch die Jahrzehnte. Ungeachtet dessen gewährt dieser kenntnisre­iche und unterhalts­ame Comic tiefe Einblicke in die chinesisch-amerikanis­che Geschichte. David H.T. Wong: Flucht zum Goldenen Berg. Ein historisch­er Comic über die Geschichte der Chinesen in Nordamerik­a. Aus dem Amerikanis­chen von Anton Katja Cronauer. Verlag Edition AV. 243 S., geb., 19,90 €.

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