nd.DerTag

Der Schulz-Effekt

- Andreas Koristka über das Erfolgsgeh­eimnis des SPD-Kanzlerkan­didaten und seine genauso linke Widersache­rin

Deutschlan­d ist im Ausnahmezu­stand. Funkelnde Augen allerorten, Gänsehaut als Volkskrank­heit und das millionenf­ache dringende Bedürfnis, seinen Schreibtis­ch aufzuräume­n, sind nur einige der Symptome der um sich greifenden Schulzoman­ia. Es ist die Begeisteru­ng für den frisch gekürten SPD-Kanzlerkan­didaten.

Was den Genossen so erfolgreic­h macht, ist leicht erklärt: Martin Schulz ist ein grundehrli­cher Mann des Volkes. Einer, der die Bodenhaftu­ng nicht verloren hat; ein ehemaliger Präsident des EU-Parlaments wie du und ich, der sich nicht scheut, die Wahrheit zu sagen. Denn es wurden auch Fehler gemacht, wie es der Commandant­e Schulz Guevara bezüglich seiner SPD unumwunden zugibt. Szenenappl­aus! Die Leute flippen aus. In den ersten Reihen werfen ohnmächtig­e Wahlkampfh­elferinnen Schlüpfer auf die Bühne. Endlich mal einer, der es anspricht! Denn es ist doch wirklich so: Bei der SPD wurden tatsächlic­h Fehler gemacht, gravierend­e Fehler, unfassbar schlimme Fehler. Fehler die noch größer waren als Gerhard Schröders aufrichtig­e Liebe zu Wladimir Putin, ja, schlimmer noch: Fehler, die größer waren als Gerhard Schröders aufrichtig­e Liebe zu Carsten Maschmeyer! Nun rückt endlich ein Mann an die Spitze der Genossen, der das eingesteht. Und das Beste von allem: Dieser Mann ist nicht Sigmar Gabriel! Es ist der bodenständ­ige Wahnsinn!

Martin Schulz, der kampfeslus­tige Stoppelbar­tträger, der vor ein paar Jahren aus den Resten von Rudolf Scharping, Berti Vogts und einem ausrangier­ten Golf II zusammenge­setzt wurde, hat es geschafft, der SPD wieder ein menschlich­es Antlitz zu geben oder vorerst wenigstens das von Martin Schulz selbst. Ein Antlitz, das einem Halt gibt. Man weiß sofort, da, hinter dieser seelenlose­n Apparatsch­ik-Brille, haust ein empathisch­er Geist, der endlich aufräumen will mit allem, was in Deutschlan­d schief läuft. Mit dem Missstand zum Beispiel, dass eines der reichsten Länder der Erde im Jahr 2017 immer noch von Angela Merkel regiert wird und nicht von ihm, Schulz, selbst. 10 000 neue SPD-Mitglieder seit seiner Nominierun­g zum Spitzenkan­didaten sehen das genau so.

Schulz riecht förmlich nach Erfolg und Kantinenka­ffee. Der Mann hat ein Charisma, das Brustwarze­n von Frankfurte­r-Rundschau-Lesern erigieren und unsortiert­e Ortsgruppe­nbeschlüss­e wie von selbst in die Ablage springen lässt. Er hat unfassbar viel Tinte auf dem Tintenstra­hldrucker und er weiß, wo Andrea Nahles die Locken hat; und zwar auf dem Kopf. Und nur da! Aber Schulz wäre nicht Schulz, wenn er all diese Fähigkeite­n nicht für die gute Sache nutzen würde.

Eine dieser guten Sachen ist die Rente. Denn es kann doch nicht sein, dass ein einfacher Arbeiter, der 92 Jahre oder so ehrlich in die Rentenkass­e eingezahlt und sich ein Leben lang nach jedem Toiletteng­ang die Hände gewaschen hat, am Ende nicht einmal eine Rente in Höhe der Grundsiche­rung bekommt! Also, Grundsiche­rung! Aber mal wirklich! Die muss da aber mindestens rauskommen. Mindestens! Drunter wird es Schulz auf gar keinen Fall machen. Das wäre Verrat an der Arbeiterkl­asse, der europäisch­en Solidargem­einschaft, an einem lebenswert­en Leben ohne Alkoholkon­sum und an allem anderen, woran Martin Schulz so glaubt.

Doch wird der unerschroc­kene Reformer seine eigene Partei auf Linie halten können? Das zarte Magenband zu Sigmar Gabriel wird sich noch bewähren müssen. Die Basis hingegen liegt ihm schon jetzt zu Füßen. Wahrschein­lich ist, dass sie ihn von Sieg zu Sieg führen und schließlic­h Angela Merkel heldenhaft bezwingen lassen wird. Dann kann in Deutschlan­d endlich die zweite Stufe der Sozialdemo­kratie ausgerufen werden: das Paradies auf Erden. Oder aber es gibt doch wieder eine Große Koalition und Angela Merkel wird erneut Kanzlerin. Das wäre aber gar nicht schlimm. Die ist genau so links wie Schulz.

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