Der Schulz-Effekt
Deutschland ist im Ausnahmezustand. Funkelnde Augen allerorten, Gänsehaut als Volkskrankheit und das millionenfache dringende Bedürfnis, seinen Schreibtisch aufzuräumen, sind nur einige der Symptome der um sich greifenden Schulzomania. Es ist die Begeisterung für den frisch gekürten SPD-Kanzlerkandidaten.
Was den Genossen so erfolgreich macht, ist leicht erklärt: Martin Schulz ist ein grundehrlicher Mann des Volkes. Einer, der die Bodenhaftung nicht verloren hat; ein ehemaliger Präsident des EU-Parlaments wie du und ich, der sich nicht scheut, die Wahrheit zu sagen. Denn es wurden auch Fehler gemacht, wie es der Commandante Schulz Guevara bezüglich seiner SPD unumwunden zugibt. Szenenapplaus! Die Leute flippen aus. In den ersten Reihen werfen ohnmächtige Wahlkampfhelferinnen Schlüpfer auf die Bühne. Endlich mal einer, der es anspricht! Denn es ist doch wirklich so: Bei der SPD wurden tatsächlich Fehler gemacht, gravierende Fehler, unfassbar schlimme Fehler. Fehler die noch größer waren als Gerhard Schröders aufrichtige Liebe zu Wladimir Putin, ja, schlimmer noch: Fehler, die größer waren als Gerhard Schröders aufrichtige Liebe zu Carsten Maschmeyer! Nun rückt endlich ein Mann an die Spitze der Genossen, der das eingesteht. Und das Beste von allem: Dieser Mann ist nicht Sigmar Gabriel! Es ist der bodenständige Wahnsinn!
Martin Schulz, der kampfeslustige Stoppelbartträger, der vor ein paar Jahren aus den Resten von Rudolf Scharping, Berti Vogts und einem ausrangierten Golf II zusammengesetzt wurde, hat es geschafft, der SPD wieder ein menschliches Antlitz zu geben oder vorerst wenigstens das von Martin Schulz selbst. Ein Antlitz, das einem Halt gibt. Man weiß sofort, da, hinter dieser seelenlosen Apparatschik-Brille, haust ein empathischer Geist, der endlich aufräumen will mit allem, was in Deutschland schief läuft. Mit dem Missstand zum Beispiel, dass eines der reichsten Länder der Erde im Jahr 2017 immer noch von Angela Merkel regiert wird und nicht von ihm, Schulz, selbst. 10 000 neue SPD-Mitglieder seit seiner Nominierung zum Spitzenkandidaten sehen das genau so.
Schulz riecht förmlich nach Erfolg und Kantinenkaffee. Der Mann hat ein Charisma, das Brustwarzen von Frankfurter-Rundschau-Lesern erigieren und unsortierte Ortsgruppenbeschlüsse wie von selbst in die Ablage springen lässt. Er hat unfassbar viel Tinte auf dem Tintenstrahldrucker und er weiß, wo Andrea Nahles die Locken hat; und zwar auf dem Kopf. Und nur da! Aber Schulz wäre nicht Schulz, wenn er all diese Fähigkeiten nicht für die gute Sache nutzen würde.
Eine dieser guten Sachen ist die Rente. Denn es kann doch nicht sein, dass ein einfacher Arbeiter, der 92 Jahre oder so ehrlich in die Rentenkasse eingezahlt und sich ein Leben lang nach jedem Toilettengang die Hände gewaschen hat, am Ende nicht einmal eine Rente in Höhe der Grundsicherung bekommt! Also, Grundsicherung! Aber mal wirklich! Die muss da aber mindestens rauskommen. Mindestens! Drunter wird es Schulz auf gar keinen Fall machen. Das wäre Verrat an der Arbeiterklasse, der europäischen Solidargemeinschaft, an einem lebenswerten Leben ohne Alkoholkonsum und an allem anderen, woran Martin Schulz so glaubt.
Doch wird der unerschrockene Reformer seine eigene Partei auf Linie halten können? Das zarte Magenband zu Sigmar Gabriel wird sich noch bewähren müssen. Die Basis hingegen liegt ihm schon jetzt zu Füßen. Wahrscheinlich ist, dass sie ihn von Sieg zu Sieg führen und schließlich Angela Merkel heldenhaft bezwingen lassen wird. Dann kann in Deutschland endlich die zweite Stufe der Sozialdemokratie ausgerufen werden: das Paradies auf Erden. Oder aber es gibt doch wieder eine Große Koalition und Angela Merkel wird erneut Kanzlerin. Das wäre aber gar nicht schlimm. Die ist genau so links wie Schulz.