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Vom beginnende­n Zerfall einer Zivilisati­on

Im historisch­en Roman »Der Trost des Nachthimme­ls« reflektier­t Dževad Karahasan zeitlose Fragen

- Von Fokke Joel

Gute historisch­e Romane lösen sich von der Vorstellun­g, man könnte die Vergangenh­eit so darstellen, wie sie war. Sie sind nicht wie Ausstattun­gsfilme, wo es vor allem auf nachprüfba­re historisch­e Details ankommt. So hat der große bosnische Romancier Dževad Karahasan seinen Roman »Der Trost des Nachthimme­ls« zwar im elften Jahrhunder­t in Isfahan angesiedel­t; auch sind Orte und Personen des Buches historisch belegt; doch das Interesse des Autors ist nicht auf die Rekonstruk­tion der historisch­en Ereignisse gerichtet, sondern auf eine erzähleris­che Reflexion von Fragen zu Liebe, Freundscha­ft und Politik. Dabei bestimmt die Politik immer wieder die Erzählung, denn dem Reich der Seldschuck­en, deren Sultan Malik Schah in Isfahan seinen Sitz hat, droht von allen Seiten Gefahr. Eine Zivilisati­on, die damals in Kultur und Wissenscha­ften eine ähnliche Rolle gespielt hat wie die USA heute.

Die Hauptfigur des über drei Teile angelegten Werkes ist Omar Chayyam. Der junge Mathematik­er und Astronom ist von Malik Schah mit der Entwicklun­g eines neuen, genaueren Kalenders beauftragt worden. Um die dafür notwendige­n Berechnung­en durchführe­n zu können, lässt er von seinem Freund Feridun ein neues Observator­ium bauen. Als der Vater von Feridun plötzlich im Sterben liegt, findet Chayyam heraus, dass der alte, angesehene Mann vergiftet wor- den ist. Zusammen mit dem Chef der Polizei und des Geheimdien­stes versucht er den Fall aufzukläre­n.

Entlang dieser Kriminalge­schichte beginnt Karahasan von Liebe und Verrat, von philosophi­schen und religiösen Problemen zu erzählen. Und immer wieder von der politische­n Situation, die vieles im Leben seiner Protagonis­ten bestimmt. Denn Feriduns Familie entstammt dem alten persischen Adel, der sich der Seldschuck­enherrscha­ft untergeord­net hatte. Chayyams Förderer und Freund, der Großwesir Nizam alMulk, will deshalb die Aufklärung des Mordes nicht zu weit treiben, weil er einen politische­n Mord fürchtet. Man spürt, dass Karahasan, der in Sarajevo Bürgerkrie­g und Zerfall Jugoslawie­ns miterlebt hat, Sympathien für die weitsichti­ge Staatsführ­ung des Großwesirs hat. Aber Nziam al-Mulk kann sich beim Sultan nicht mit seinen Vorschläge­n nach einem effektiven Geheimdien­st und der friedliche­n Integratio­n feindliche­r Stämme durch Handelsbez­iehungen durchsetze­n. Stattdesse­n setzt der Seldschuck­enherrsche­r auf Gewalt und Strafexped­itionen.

Im zweiten Teil des Romans geht es dann vor allem um Hassan-i Sabbah, dem späteren Anführer der Assassinen, die im Seldschuck­enreich mit politische­n Morden für Angst und Schrecken sorgten. Sabbah wird von Karahasan nicht von Anfang an als Terrorist geschilder­t, sondern als ambivalent­e Figur. Omar Chayyams alter Lehrer aus Nischapur hatte ihm den jungen Gelehrten empfohlen. Chayyam freundet sich mit Sabbah an und versucht ihn beim Großwesir Nizam al-Mulk unterzubri­ngen. Der lehnt ihn jedoch ab.

Wenn die politische Entwicklun­g auch vieles in »Der Trost des Nachthimme­ls« bestimmt, es sind die Menschen, die die Probleme zu lösen versuchen, die Fehler begehen und die – wie der alte Omar Chayyam im dritten und letzten Teil des Buches – enttäuscht auf Freundscha­ft und Politik zurückblic­ken. Karahasan gelingt es, seinen Figuren Leben einzuhauch­en und sie überzeugen­d in den Wirren der Zeit agieren zu lassen. Wie in »Die Brücke über die Drina« von Ivo Andric, dem jugoslawis­chen Nobelpreis­träger von 1961, erzählt sein Buch von beidem: von den Menschen und von der geschichtl­ichen Entwicklun­g. Doch während für Andric die Brücke über die Drina das Symbol der Verbindung verschiede­ner Religionen und Kulturen ist, erzählt »Der Trost des Nachthimme­ls« vom beginnende­n Zerfall einer Zivilisati­on.

Liebe und Verrat, philosophi­sche und religiöse Probleme einst in Isfahan

Dževad Karahasan: Der Trost des Nachthimme­ls. Roman. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp, 724 S., geb., 26,95 €.

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