Kochen im Deminutiv
In Japan hat Essen einen besonderen Stellenwert – genauso wie die Niedlichkeit
Im Internet zeigen japanische Filmchen, wie man mit einer daumengroßen Pfanne einen Braten zaubert. Sie werden millionenfach gesehen und zeigen auch, worum es beim Essen manchmal nicht geht. Roland Barthes wäre wohl wieder ins Schwärmen geraten. Würde der französische Semiotiker heute leben und sich ein weiteres Mal mit Japan beschäftigen, dann sähe er sich jetzt bestimmt eines dieser Videos auf Youtube an: In einen Ofen, so breit wie eine Visitenkarte, schiebt da eine überdimensionale, feine Männerhand ein Teelicht. Im Zeitraffer beginnt Öl in einem Topf mit dem Durchmesser einer Armbanduhr zu köcheln. Unterdessen hat diese riesige Hand Hühnerfleisch fingerkuppenklein geschnitten und in Mehl geschwenkt. Während das Hühnchen im Öl brutzelt, träufelt die Hand Sauce auf eine zuvor frittierte Teigtasche im Mikrochipformat, die sie neben winzig gehackten Salatblättchen auf einem Tellerchen anrichtet. Bereit zum Essen, im Maßstab von 1:10 oder kleiner.
Solche und ähnliche Videos, von denen Miniaturliebhaber aus Japan mittlerweile um die 170 veröffentlicht haben, sind zu richtigen Hits im Internet geworden. Als etwa Mitte Januar die gefilmte Zubereitung einer Mini-Mousse-au-Chocolat online ging, hatten das nach nur vier Stunden schon 4600 Menschen angese- hen. Der bisher beliebteste Clip, das Backen von Mini-Pancakes, wurde in zwei Jahren mehr als acht Millionen Mal geklickt. Das frittierte Hühnchen immerhin 4,6 Millionen Mal. Solche Zahlen erreichen viele beliebte PopSongs nicht. Und wer das zum ersten Mal sieht, mag sich am Kopf kratzen und sich fragen: Was soll das Ganze? »Gegenmythos« Japan Genau die Frage, die sich Roland Barthes gestellt hätte. Als der Franzose 1966 erstmals nach Japan reiste, sah er in diesem Land einen »Gegenmythos«: Japan verkörperte das Gegenteil von allem, was ihm in der ihm bekannten Welt selbstverständlich schien. Diesen Gegenmythos formulierte er 1970 in seinem Buch »Reich der Zeichen«.
Barthes, einer der einflussreichsten Poststrukturalisten, wollte das Denken von den Ketten der Sprache befreien und allen Klischees den Kampf ansagen. Damit das gelingen könnte, brauchte er einen Ort, wo er die Bedeutungen von Alltagsphänomenen nicht verstand. So nannte er, als Fremder in Tokio, seinen Gegenmythos Japan.
Schon möglich, beteuerte Barthes, dass dieses Japan mit dem wirklichen Land wenig zu tun habe. Es gehe schließlich um seine eigenen, naiven Beobachtungen. Ganze Kapitel widmet der Franzose, dessen Heimat für ihre kulinarische Kultur weltbekannt ist, dem feinfühligen Umgang mit Essen in diesem Japan. »Das Tablett scheint ein Bild der empfind- lichsten Ordnung«, heißt es da: Darauf fand der Beobachter mehrere kleine Schüsseln, Schachteln, Stäbchen für Portionen von Zutaten aus Gemüse, Reis, Saucen, geschnittenem Ingwer. »Allerdings, so vorzüglich diese Anordnung erscheint, sie ist verdammt, vernichtet zu werden«, schreibt Barthes: »Was anfangs ein regloses Tableau war, wird Arbeitsfläche oder Schachbrett, nicht der Ort des Sehens, sondern des Tuns, von Praxis oder Spiel.«
Dass es sich auch um Spiel handeln könnte, das ahnte Barthes schon – als hätte er diese Videos auf Youtube gesehen. Über mehrere Absätze beschreibt er anderswo, wie man in Japan häufig schon während des Kochens esse und die leeren Behälter wieder von neuem fülle. Die Wörter Essen und Kochen verlieren ihre scheinbar klaren Bedeutungen, werden zur selben Sache, Anfang und Ende ununterscheidbar. Es ist ein kleiner revolutionärer Moment für Barthes, der in semiologischem Vokabular schreibt, von Signifikanten, also dem Sichtbaren, Fühlbaren, und Signifikaten, also dem mentalen Konzept hinter der Wahrnehmung. Sein Japan wirbelt die Verhältnisse durcheinander. Der Hang zum Niedlichen Ähnlich könnte es sich jetzt mit diesen Videos von Mini-Essen aus dem wirklichen Japan verhalten. Denn wenn Essen grundsätzlich der Nahrungsaufnahme dient, warum sollte man dann möglichst wenig davon zu- bereiten? Nur um Bewunderer zu finden? Weil alles nur ein Spiel ist? Und wozu sieht man sich diese Videos des En-miniature-Kochens an, wenn diese weder sättigen noch eine nützliche Kochanleitung für die eigene Küche bieten?
»Sie sind so niedlich«, sagt Azusa Yokota, eine 32-jährige Lehrerin aus Tokio. Yokota, die in ihrer Freizeit kleine Knetfiguren bastelt, kennt fast jedes der Videos. »Mich macht es optimistisch, wenn ich sehe, wie schön auch ganz kleine Dinge werden können. Um das zu erkennen, braucht man nur eine Lupe, die stark genug ist.« DasWort, das Yokota benutzt, ist »kawaii«, für »putzig« oder eben »niedlich«. Es bezeichnet Dinge und Menschen, die den Beschützerinstinkt auslösen. Das können kleine Kinder, rosa gepunktete Socken oder mädchenhafte Pop-Gruppen sein. Je kleiner, desto niedlicher.
Und das klingt zunächst doch nach Klischee. Wozu sollte Essen niedlich sein? »Ich koche selber gern«, sagt Azusa Yokota. Und dabei gehe es ihr nicht ums Sattwerden allein. »Wenn mir alles gut gelungen ist, fotografiere ich den vollen Teller und zeige ihn meinen Freunden.« Als Hobby gibt man in Japan häufig »Essen« an, womit auch das Lernen neuer Rezepte, das Suchen der Zutaten, Kochen, Essen sowie – nicht unwichtig – das Teilen der Erfahrung gemeint ist. Auf Facebook, Instagram und anderen sozialen Netzwerken fallen Japaner nicht selten dadurch auf, dass sie wie Azusa Yokota Fotos schön gar- nierter Teller hochladen. In riesigen Portalen werden Restaurants und Rezepte bewertet. Auch viele OnlineKochvideos in normalem Maßstab stammen aus Japan. Respekt für den Koch Die beliebten Miniaturversionen sind so gesehen der nächste Schritt: die Symbiose von ausgefeilten Empfindungen für Essen und Niedlichkeit. Für Roland Barthes aberwäre es wohl ein befreiender Moment, eine sich öffnende Lücke zwischen Signifikat und Signifikant: Das Miniaturessen erscheint auf einem Bildschirm, verewigt für alle, kann aber nicht auf die gewöhnliche Weise, durch Gaumen oder Nase, genossen werden. Vielleicht ist für die Kochkünstler wie für das Publikum der Weg das Ziel. Das Ankommen, nämlich das Essen, das einen eigentlich vor dem Sterben bewahrt, ist unwichtig geworden.
Den Boom der Videos über das Miniaturkochen könnte man also auch als Hommage an die eigene Küche verstehen. Essen in Japan werde derart zelebriert, schwärmte Barthes 1970. So gelte es, den Koch besonders zu respektieren, gerade dann, wenn er das Essen, wie es in diesem Japan eben häufiger der Fall sei, vor den Augen des Kunden zubereite: »Du bist es zwar, der isst, aber er war es, der gespielt, geschrieben und produziert hat.« Nur enden die Videos immer dann, wenn der Schöpfungsprozess vollendet ist. Wer hat behauptet, dass man Essen auch essen muss?