Raus aus der Tabuzone
Kindesmissbrauch ist unverändert weit verbreitet – noch immer fehlt es an Präventionsangeboten
Skandale in öffentlichen Einrichtungen schreckten vor einigen Jaren auf. Forscher bemühen sich seitdem, einen Überblick zum Kindesmissbrauch zu erhalten – und kommen teils zu fatalen Ergebnissen. Fragt man Jörg Fegert, wie es um das Ausmaß des Kindesmissbrauchs in Deutschland bestellt ist, wirkt er besorgt. Fast jeder siebte Bundesbürger ist nach einer neuen wissenschaftlichen Studie in seiner Kindheit sexuell missbraucht worden. »Es gibt keine Entwarnung. Die Zahlen bewegen sich weiterhin auf einem hohen Niveau«, sagte der ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm am Donnerstag bei der Vorstellung einer neuen Studie in Berlin. Die Fälle für sexuellen Missbrauch sind im Vergleich zu einer Erhebung aus dem Jahr 2010 sogar leicht angestiegen. Insgesamt haben jetzt 13,9 Prozent der Befragten angegeben, in ihrer Kindheit Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden zu sein.
Für Fegert ist dies ein überraschendes Ergebnis. Denn zugleich stellt die repräsentative Studie auch fest, dass körperliche Misshandlungen während der Kindheit in den vergangenen fünf Jahren deutlich abgenommen haben. Das hatte Fegert auch erwartet, denn insgesamt sieht er einen Wandel bei der elterlichen Erziehungskultur, die heute weitaus seltener als früher Gewalt für ein probates Mittel hält. »Dieser Einstellungswandel stimmt uns insgesamt positiv«, meinte Fegert. In der Untersuchung spiegelt sich dieser Trend allerdings nicht umfassend wieder, weil dafür Menschen im Alter von 14 bis 94 Jahren befragt worden sind.
Angestiegen sind dagegen im Vergleichszeitraum der beiden Erhebungen die Fälle von seelischen Misshandlungen – von 15 auf 18,6 Prozent. Fegert nennt dafür ein Beispiel – wenn ein Kind das Gefühl hatte, in der Familie das Schwarze Schaf gewesen zu sein, das gegängelt wurde und sich weniger gemocht fühlte. »Das sind oftmals Schicksale, die schlecht objektivierbar sind«, so der Forscher, »weil die Angaben auf eine Selbstwahrnehmung beruhen«. Möglicherweise resultiere dieses Ergebnis auch auf ein gestiegenes Bewusstsein für emotionale Misshandlungen – insbesondere in der jüngeren Generation, mutmaßt Fegert. Erfassen konnte die Untersuchung dies aber nicht.
Zählt man nun die Fälle von sexuellem, emotionalen und körperlichen Misshandlungen zusammen, so ergibt die Studie ein erschreckendes Bild: Demnach hat knapp ein Drittel der Bevölkerung in der Kindheit Gewalt und Missbrauch erfahren (30,8 Prozent). Es ist beileibe kein Randthema in der Gesellschaft. »Aggression und Gewalt gehören gehören noch immer zum Alltag vieler Kinder«, konstatierte Johannes-Wilhelm Rörig, Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs. »Ich bin erschüttert, dass es keinen Rückgang der Fälle gibt.« Die unmittelbaren Auswirkungen bezeichnet Fegert als »katastrophal«. »Aber erst, wenn man das auf den gesamten Lebenslauf rechnet, lässt sich die gesamte Dimension erfassen.« Die Trauma-Folgekosten lägen in Deutschland bei elf Milliarden Euro – im Jahr.
Zwar habe in den vergangenen Jahren die Sensibilität in der Bevölkerung insgesamt zugenommen. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt die Skandale in Internaten und Kin-
»Ich bin erschüttert, dass es keinen Rückgang der Fälle gibt.« Johannes-Wilhelm Rörig, Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs
derheimen, die öffentlich geworden sind. Rörig bemängelte aber noch immer fehlendes gesellschaftliches Engagement. Er sprach von einer paradoxen Situation: »In Sonntagsre- den sagen alle, Kinder sind unsere Zukunft und müssen gewaltfrei aufwachsen. Und gleichzeitig haben wir die Situation, dass wir nicht genug tun, um Missbrauch zu verhindern.«
Beim Blick in die Wahlprogramme der Parteien für die Bundestagswahl im September sieht er noch erheblichen Konkretisierungsbedarf. In der kommenden Legislaturperiode müsse dauerhaft und umfassend für einen besseren Schutz sowie mehr Hilfe für Betroffene gesorgt werden, so seine Forderung. Die Handlungsmöglichkeiten seien bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Wir brauchen mehr Präventionsangebote in Kitas, Schulen und Vereinen, darin müsse investiert werden. Auch die individuelle Hilfsangebote für Betroffenen müsse verbessert werden.
Zudem dringt Rörig auf eine Reform des Opferentschädigungsge- setzes. Ein hoher bürokratischer Aufwand verhindere bislang eine effektive Hilfe, so der Missbrauchsbeauftragte. Es brauche sensible Gutachter, die sich der Fälle annehmen, um eine Retraumatisierung der Antragsteller zu verhinderten. Vor der Bundestagswahl rechnet er nicht mehr mit einer Reform des Gesetzes.
Fegert als Wissenschaftler beabsichtigt indes, die Studie weiterzuführen und alle fünf Jahre neue Ergebnisse zu präsentieren. Er will herausfinden, ob die ergriffenen Präventionsmaßnahmen Wirkung zeigen. Dabei gibt er sich keinen Illusionen hin. »Wir werden es sicherlich nicht schaffen, alle Fälle von Missbrauch und Vernachlässigung zu verhindern. Aber das Ziel muss sein, dass auch jene, denen Schlimmes widerfahren ist, trotzdem ein gutes Leben führen können.«