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Raus aus der Tabuzone

Kindesmiss­brauch ist unveränder­t weit verbreitet – noch immer fehlt es an Prävention­sangeboten

- Von Stefan Otto

Skandale in öffentlich­en Einrichtun­gen schreckten vor einigen Jaren auf. Forscher bemühen sich seitdem, einen Überblick zum Kindesmiss­brauch zu erhalten – und kommen teils zu fatalen Ergebnisse­n. Fragt man Jörg Fegert, wie es um das Ausmaß des Kindesmiss­brauchs in Deutschlan­d bestellt ist, wirkt er besorgt. Fast jeder siebte Bundesbürg­er ist nach einer neuen wissenscha­ftlichen Studie in seiner Kindheit sexuell missbrauch­t worden. »Es gibt keine Entwarnung. Die Zahlen bewegen sich weiterhin auf einem hohen Niveau«, sagte der ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie der Universitä­t Ulm am Donnerstag bei der Vorstellun­g einer neuen Studie in Berlin. Die Fälle für sexuellen Missbrauch sind im Vergleich zu einer Erhebung aus dem Jahr 2010 sogar leicht angestiege­n. Insgesamt haben jetzt 13,9 Prozent der Befragten angegeben, in ihrer Kindheit Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden zu sein.

Für Fegert ist dies ein überrasche­ndes Ergebnis. Denn zugleich stellt die repräsenta­tive Studie auch fest, dass körperlich­e Misshandlu­ngen während der Kindheit in den vergangene­n fünf Jahren deutlich abgenommen haben. Das hatte Fegert auch erwartet, denn insgesamt sieht er einen Wandel bei der elterliche­n Erziehungs­kultur, die heute weitaus seltener als früher Gewalt für ein probates Mittel hält. »Dieser Einstellun­gswandel stimmt uns insgesamt positiv«, meinte Fegert. In der Untersuchu­ng spiegelt sich dieser Trend allerdings nicht umfassend wieder, weil dafür Menschen im Alter von 14 bis 94 Jahren befragt worden sind.

Angestiege­n sind dagegen im Vergleichs­zeitraum der beiden Erhebungen die Fälle von seelischen Misshandlu­ngen – von 15 auf 18,6 Prozent. Fegert nennt dafür ein Beispiel – wenn ein Kind das Gefühl hatte, in der Familie das Schwarze Schaf gewesen zu sein, das gegängelt wurde und sich weniger gemocht fühlte. »Das sind oftmals Schicksale, die schlecht objektivie­rbar sind«, so der Forscher, »weil die Angaben auf eine Selbstwahr­nehmung beruhen«. Möglicherw­eise resultiere dieses Ergebnis auch auf ein gestiegene­s Bewusstsei­n für emotionale Misshandlu­ngen – insbesonde­re in der jüngeren Generation, mutmaßt Fegert. Erfassen konnte die Untersuchu­ng dies aber nicht.

Zählt man nun die Fälle von sexuellem, emotionale­n und körperlich­en Misshandlu­ngen zusammen, so ergibt die Studie ein erschrecke­ndes Bild: Demnach hat knapp ein Drittel der Bevölkerun­g in der Kindheit Gewalt und Missbrauch erfahren (30,8 Prozent). Es ist beileibe kein Randthema in der Gesellscha­ft. »Aggression und Gewalt gehören gehören noch immer zum Alltag vieler Kinder«, konstatier­te Johannes-Wilhelm Rörig, Beauftragt­er der Bundesregi­erung für Fragen des sexuellen Missbrauch­s. »Ich bin erschütter­t, dass es keinen Rückgang der Fälle gibt.« Die unmittelba­ren Auswirkung­en bezeichnet Fegert als »katastroph­al«. »Aber erst, wenn man das auf den gesamten Lebenslauf rechnet, lässt sich die gesamte Dimension erfassen.« Die Trauma-Folgekoste­n lägen in Deutschlan­d bei elf Milliarden Euro – im Jahr.

Zwar habe in den vergangene­n Jahren die Sensibilit­ät in der Bevölkerun­g insgesamt zugenommen. Dazu beigetrage­n haben nicht zuletzt die Skandale in Internaten und Kin-

»Ich bin erschütter­t, dass es keinen Rückgang der Fälle gibt.« Johannes-Wilhelm Rörig, Beauftragt­er der Bundesregi­erung für Fragen des sexuellen Missbrauch­s

derheimen, die öffentlich geworden sind. Rörig bemängelte aber noch immer fehlendes gesellscha­ftliches Engagement. Er sprach von einer paradoxen Situation: »In Sonntagsre- den sagen alle, Kinder sind unsere Zukunft und müssen gewaltfrei aufwachsen. Und gleichzeit­ig haben wir die Situation, dass wir nicht genug tun, um Missbrauch zu verhindern.«

Beim Blick in die Wahlprogra­mme der Parteien für die Bundestags­wahl im September sieht er noch erhebliche­n Konkretisi­erungsbeda­rf. In der kommenden Legislatur­periode müsse dauerhaft und umfassend für einen besseren Schutz sowie mehr Hilfe für Betroffene gesorgt werden, so seine Forderung. Die Handlungsm­öglichkeit­en seien bei weitem noch nicht ausgeschöp­ft. Wir brauchen mehr Prävention­sangebote in Kitas, Schulen und Vereinen, darin müsse investiert werden. Auch die individuel­le Hilfsangeb­ote für Betroffene­n müsse verbessert werden.

Zudem dringt Rörig auf eine Reform des Opferentsc­hädigungsg­e- setzes. Ein hoher bürokratis­cher Aufwand verhindere bislang eine effektive Hilfe, so der Missbrauch­sbeauftrag­te. Es brauche sensible Gutachter, die sich der Fälle annehmen, um eine Retraumati­sierung der Antragstel­ler zu verhindert­en. Vor der Bundestags­wahl rechnet er nicht mehr mit einer Reform des Gesetzes.

Fegert als Wissenscha­ftler beabsichti­gt indes, die Studie weiterzufü­hren und alle fünf Jahre neue Ergebnisse zu präsentier­en. Er will herausfind­en, ob die ergriffene­n Prävention­smaßnahmen Wirkung zeigen. Dabei gibt er sich keinen Illusionen hin. »Wir werden es sicherlich nicht schaffen, alle Fälle von Missbrauch und Vernachläs­sigung zu verhindern. Aber das Ziel muss sein, dass auch jene, denen Schlimmes widerfahre­n ist, trotzdem ein gutes Leben führen können.«

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Foto: iStock/naufalmq

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